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"Sogar meine Enkelin wurde zum Opfer der Diktatur"

Argentinien: Seit 34 Jahren demonstrieren "Großmütter" für Aufklärung der massenweisen Entführungen. Ein Gespräch mit Rosa Roisinblit *


Die 92 Jahre alte Argentinierin Rosa Roisinblit ist Vizepräsidentin der »Abuelas de la Plaza de Mayo« (Großmütter der Plaza de Mayo). Deren Angehörige wurden 1976 von den Putschisten des Staatsstreichs entführt – bis heute demonstrieren sie regelmäßig auf diesem Platz in Buenos Aires.

In der Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 »verschwanden« in Argentinien 30000 Menschen. Wie haben sie den Putsch der Militärs gegen die Regierung von Isabel Perón persönlich erlebt?

Daß unsere Angehörigen auf offener Straße verhaftet wurden und nie wiederkamen, war zuerst unfaßbar. Uns wäre damals aber nie in den Sinn gekommen, daß sich dieser Staatsstreich in einen Staatsterrorismus verwandeln würde. Argentinien war aber immer schon politisch unruhig – seit den 1930er Jahren hat kaum eine gewählte Regierung ihre Amtszeit zu Ende gebracht. Sobald sie gewählt war, putschte das Militär, dann kamen wieder Wahlen. Bis 1976 gab es meines Wissens nur zwei Präsidenten, die ihr Mandat von damals sechs Jahren bis zum Schluß ausüben konnten. Eines Tages, am 24. März 1976, war es mal wieder soweit, ein neuer Putsch.

Wen traf dieser von oben verordnete Terror?

Für eine Verhaftung reichte schon aus, daß man mit der Diktatur nicht einverstanden war. Das Wort »verschwunden« bekam für uns eine neue Bedeutung. Wir Frauen dachten, daß unsere Kinder nur verhaftet seien und im Gefängnis säßen. Wir merkten schließlich, daß das so nicht stimmte.

Das Militär hatte dafür gesorgt, daß über die Folterpraktiken Informationen durchsickerten. Zu diesem Zweck wurden Gefangene entlassen, damit sie draußen erzählten, was in den Zellen vor sich geht. Damit erreichten sie, daß die Bevölkerung wußte, was dort geschieht – ein Klima des Schreckens und der Angst machte sich breit.

Es gab Familien, deren schwangere Tochter entführt worden war. Sie hielten jedoch still und protestierten nicht, aus Angst, daß noch ein Familienmitglied verschwinden könnte. Entführt wurden Arbeiter, Angestellte, Gewerkschafter, Studenten, Gymnasiasten und sogar Kinder. In dieser Zeit kam der Begriff des »Verschwindens von Personen« auf.

Sind Gründe dafür bekannt, warum die Methode des »Verschwindenlassens« ab 1976 zur Anwendung kam?

Es gab großen Druck, den Neoliberalismus einzuführen: Öffnung der Märkte, weniger Industrialisierung, ein wirtschaftsliberales Modell. Das Militär wollte das durchziehen, am Ende wissen wir, daß es unser Land ruiniert hat. Es hat übrigens auch viel vom Vorgehen Nazideutschlands im Zweiten Weltkrieg gelernt. Entführte Argentinier jüdischen Ursprungs z. B. wurden besonders brutal gefoltert, ihnen schlug mehr Haß und Wut entgegen, weil sie Juden waren. Auch die US-amerikanische »School of the Americas« (Militärschule für lateinamerikanische Offiziere) hat ihren Einfluß ausgeübt.

Ihre Tochter und deren Lebensgefährte wurden entführt. Warum?

Weil sie junge, nachdenkliche Leute waren. Sie wollten ein besseres Land, für sich und ihre Kinder. Darum schlossen sie sich einer Gruppe an, die gegen die Diktatur kämpfte, der Montonero-Bewegung (links-peronistische Stadtguerilla – d. Red.). Beide verschwanden, als meine Tochter im achten Monat schwanger war.

Zurück ließen sie ihre 15 Monate alte Tochter, um die ich mich dann kümmerte. Sie hatte jetzt keine Eltern mehr, das einzige was ihr von ihnen blieb, waren die Worte »Mama« und »Papa«. Stellen Sie sich vor, was in so einem kleinen Kopf und Herz vor sich geht. Sogar meine Enkelin wurde auf diese Weise zum Opfer der Diktatur, auch wenn sie nicht »verschwunden« ist.

Wegen all dieser Erfahrungen setze ich mich seit 34 Jahren für Menschenrechte überall auf der Welt ein. Es bleibt uns aber auch hier viel Arbeit – wir müssen noch die Identität und die Anschrift von 400 Personen ermitteln. Sie sind Opfer eines systematischen Kinderraubs. Viele Frauen, die schwanger in Gefangenschaft kamen, wurden nach der Geburt umgebracht. Die überlebenden Babys wurden dann meist von Familien adopiert, die dem Militärregime nahestanden.

Interview: Benjamin Beutler

* Aus: junge Welt, 13. Juli 2011


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