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Mitwisser in Washington

Argentinien: USA wussten vom planmäßigen Kindesraub während der Militärdiktatur

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires *

Ein früherer hochrangiger Mitarbeiter des US-Außenministeriums hat bestätigt, dass Washington über die Praxis der argentinischen Militärdiktatur, Müttern ihre Kinder wegzunehmen, informiert war. In einem Prozess sollen die Verantwortlichen nun belangt werden.

Der Fall von Horacio Pietragalla Corti machte 2003 Schlagzeilen. Corti war als Baby seiner Mutter weggenommen worden, seine wahre Identität fand er mit Hilfe der Großmütter der Plaza de Mayo (Plakat im Hintergrund).

Die USA wussten vom systematischen Kindesraub während der argentinischen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983. »Wir haben uns gedacht, dass es sich nicht um ein oder zwei Kinder handelt«, gestand Elliot Abrams. Der frühere Mitarbeiter im US-Außenministerium sagte Ende vergangener Woche als Zeuge im Prozess gegen die argentinischen Exdiktatoren Jorge Rafael Videla und Reynaldo Bignone aus.

Die Organisation »Großmütter der Plaza de Mayo« schätzt, dass während der Diktatur rund 500 Säuglinge ihren Müttern in Folterzentren weggenommen und Adoptiveltern übergeben wurden. Die meisten Frauen wurden später ermordet. Durch intensive Suche machte die Organisation bisher über 100 geraubte Enkelkinder ausfindig. Der Umkehrschluss legt nahe, dass rund 400 Menschen, die heute bereits über 30 Jahre alt sind, ihre wirkliche Identität nicht kennen.

Abrams, von 1981 bis 1985 Unterstaatssekretär für Menschenrechte im Außenministerium, bestätigte nicht nur das Wissen der damaligen US-Regierung unter Ronald Reagan um den Kindesraub, er unterstrich auch die Systematik der Verbrechen: »Wir wussten, dass es einen Plan gab, denn es gab viele Leute, die sie eingesperrt oder ermordet haben. Wir nahmen an, dass die Militärregierung sich dazu entschlossen hatte, Kinder an andere Familien zu übergeben.«

Die beiden früheren Führer der Militärjunta, der 86-jährige Videla als erster und der 84-jährige Bignone als letzter, sind zusammen mit sechs weiteren ehemaligen Militärs angeklagt. In dem im Februar 2011 begonnenen Prozess werden exemplarisch 34 Fälle von Kindesraub verhandelt. Dass dieser Raub stattfand, ist unstrittig. In dem Verfahren geht es darum, den mutmaßlich Beteiligten die Verantwortlichkeit zuzuordnen. Zudem will die Staatsanwaltschaft nachweisen, dass es eine systematische Planung zur illegalen Aneignung der Neugeborenen gab. »Ziel des Planes war die Verbreitung von Terror, die Unterwerfung und die Vernichtung der Gegenseite. In diesem Rahmen mussten die Blutsbande getrennt werden, sprich die Mütter von ihren Kindern«, sagte Staatsanwalt Federico Delgado zum Prozessauftakt.

In einer Videoschaltung aus dem argentinischen Konsulat in Washington wurde der 64-jährige Abrams vom Gericht in Buenos Aires befragt. »Ich erinnere mich an keine vergleichbare Angelegenheit wie jene des Kindesraubs«, sagte Abrams. Die Diktatur in Argentinien sei »der schlimmste Fall« von Menschenrechtsverbrechen an Kindern gewesen.

Die »Großmütter der Plaza de Mayo« bewerten Abrams Aussagen als wichtige Beweise. Deshalb sei es umso dringlicher, dass die USA alle noch geheimen Unterlagen freigeben, »um unsere Enkelinnen und Enkel zu finden und um die Mörder zu bestrafen«. Nach offiziellen Angaben wurden unter der argentinischen Diktatur rund 13 000 Menschen ermordet oder verschwanden spurlos. Menschenrechtsorganisationen gehen jedoch von 30 000 Toten aus.

* Aus: neues deutschland, 31. Januar 2012


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