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"Komplizen der Militärdiktatur"

Die argentinische Regierung will die beiden größten Zeitungen des Landes vor Gericht bringen. Ein Gespräch mit Horácio Verbitsky *

Horácio Verbitsky (1942 geboren) ist argentinischer Journalist und Autor zahlreicher Bücher. Er schreibt regelmäßig Kolumnen für die Tageszeitung Página 12.

Argentinien führt aktuell eine sehr polarisierte Debatte über Pressefreiheit. Viele Medien werfen der Regierung vor, sie zu behindern. Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner schießt zurück und kritisiert die Presse, politische Interessen zu verfolgen. Nun hat sie die Unternehmensleitungen der größten Tageszeitungen des Landes wegen mutmaßlicher Verstrickung in die Militärdiktatur 1976 bis 1983 angezeigt. Ist das ein Beitrag zur Aufarbeitung oder ein Versuch, die Medien mundtod zu machen?

Es ist ein Beitrag zur Aufarbeitung. Es besteht kein Zweifel daran, daß die Zeitungen La Nación und Clarín Komplizen des Militärregimes waren. Und das sagen nicht die Regierung oder ich, sondern die interamerikanische Gesellschaft für Presse, welche Medienunternehmer von der Antarktis bis zu Arktis vertritt. Also eine Gruppe, die nicht im Verdacht steht, Kirchner-freundlich zu sein. Sie hat im Jahr 1978 mit einer Delegation die Situa­tion der Presse während der Diktatur untersucht. Neben offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen stellte sie fest, daß Clarín und La Nacíon die Berichte über verschwundene Journalisten zurückgehalten haben, da solche Informationen angeblich eine Gefahr für die Sicherheitsinteressen des Landes darstellten. Zudem äußerte sich der Bericht alarmiert über die Verstrickungen von Staat und Medienkonzernen, etwa in der einzigen Fabrik für Zeitungspapier des Landes.

Die Regierung wirft den Zeitungen vor, sich beim Erwerb dieser Fabrik im Jahr 1976 von der bisherigen Eigentümerfamilie »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« schuldig gemacht zu haben?

Mit dieser Anklage hat die Regierung den Maßstab für den Prozeß ziemlich hoch gehängt. Man wird sehen, ob die Gerichte da mitziehen. Vom politischen Standpunkt besteht kein Zweifel: Die Besitzerfamilie Graiver wurde durch staatliche Repression zum Verkauf ihres Unternehmens gezwungen. Aber vor Gericht muß bewiesen werden, daß Clarín und La Nación direkt an diesen Repressionen beteiligt waren und nicht nur davon profitierten.

Warum hat die Regierung sich auf »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« bezogen?

Weil diese nicht verjähren. Eine Anzeige wegen Betrugs beim Erwerb der Fabrik Papel Prensa hätte fast 35 Jahre danach kein Gericht mehr angenommen. Erst durch den Bezug auf »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« wurden die Tore geöffnet, überhaupt Ermittlungen aufzunehmen. Das allein ist schon ein Erfolg.

Im übrigen sprechen wichtige Indi­zien für die Anklage: Es steht außer Frage, daß Mitglieder der Familie Graiver entführt und gefoltert wurden und der ehemalige Vizepräsident von Papel Prensa, Jorge Rubinstein, während der Folter ermordet wurde. Genauso ist nachgewiesen, daß die für die Beteiligung notwendigen Gelder von den Generälen als Staatskredite bereitgestellt wurden.

Welche Folgen hat es für die argentinische Presselandschaft, wenn die Papierproduktion derart monopolisiert ist?

Gerechter Wettbewerb ist nicht möglich. Beide Zeitungen halten gemeinsam insgesamt 71 Prozent der Aktien von Papel Prensa. Der Rest gehört dem Staat. So können sie sich erhebliche Preisrabatte von 15 bis 20 Prozent gewähren. Wollen andere Zeitungen Papier kaufen, zahlen sie den vollen Preis. Der liegt übrigens über dem Marktpreis, da die Produktion künstlich knapp gehalten wird. Damit kontrollieren La Nación und Clarín etwa 70 bis 80 Prozent des im Land genutzten Zeitungspapiers.

In den Medien, auch in den deutschen, wird der Regierung vorgeworfen, sie wolle das bisherige Papiermonopol selber übernehmen, um mehr Kontrolle über die Presse auszuüben.

Das ist ein Beispiel für wissentlich falsche Berichterstattung. Das Gesetzesprojekt, das die Regierung in den Kongreß eingebracht hat, sieht mit keinem Wort eine nationale Kontrolle der Papierproduktion vor. Vielmehr ist es erst mal der Versuch, die Produktion von Zeitungspapier als öffentliches Gut zu definieren. Es ist eine Einladung an alle Zeitungen, sich an der Kontrolle über die Papierproduktion zu beteiligen, um sicherzustellen, daß alle zu den gleichen Bedingungen, Papier kaufen können.

Wenn Clarín der Regierung nun vorwirft, die Presse zensieren zu wollen, vertritt das Unternehmen sein ökonomisches Interesse, verkauft es allerdings als Allgemeininteresse.

Ist das im Oktober vergangenen Jahres verabschiedete Mediengesetz eine Möglichkeit, das Meinungsmonopol von Clarín und Co. zu beschränken?

Zumindest bietet es die Möglichkeit, daß andere Stimmen Gehör finden, etwa durch die im Gesetz verankerte Dreiteilung der Lizenzvergabe an private, staatliche und nicht gewinnorientierte Träger.

Gleichwohl verfolgt das Gesetz nicht mehr als eine Disziplinierung des Kapitals. Fernández de Kirchner ist keine Sozialistin, sie will keine Enteignungen. Sie versucht lediglich, das Feld zurückzuerobern, das das Kapital in den 90er Jahren besetzt hat. Viele Unternehmer sehen in der Regierung eine Gefahr für das Privateigentum oder ihre Rechtssicherheit. Das ist natürlich Quatsch. Aber es wird gefährlich, wenn die Mittelklasse anfängt, es zu glauben, weil die Me­dien über nichts anderes berichten.

Interview: Johannes Schulten und Sebastián Denegris

* Aus: junge Welt, 18. Oktober 2010

Medienriese: Clarín

Auf den ersten Blick erscheint Argentiniens Medienlandschaft ziemlich vielfältig. Das gilt vor allem für lateinamerikanische Verhältnisse. Es existieren zahlreiche regionale und überregionale Zeitungen, allein in Buenos Aires werden fünf Wirtschaftsmagazine herausgegeben. Und auch das staatliche Fernsehen setzt seit einigen Jahren auf Nachrichtenformate, anstatt Telenovelas und Unterhaltungsshows der Privaten zu kopieren.

Gleichzeitig ist die Presselandschaft Argentiniens einer der am stärksten konzentrierten Märkte Lateinamerikas. Laut einer vergleichenden Studie des in Lima ansässigen »Instituts für Presse und Gesellschaft« beherrschen die vier größten Verlage 83 Prozent des gesamten Marktes in den Bereichen Print, Radio, Fernsehen und Telefon/Telekommunikation. Im Jahr 2000 waren es noch 78 Prozent. Die größte unter ihnen ist die Gruppe Clarín mit der gleichnamigen Tageszeitung als publizistischem Flaggschiff. Die Zeitung wurde 1945 gegründet. Ihr Aufstieg zum auflagenstärksten Blatt des Landes begann jedoch erst während der Militärdiktatur (1976 bis 1983), mit deren Hilfe die Zeitung die Kontrolle über die Produktion von Zeitungspapier erhielt. Zum Sprung in die heutige Meinungsführerschaft setzte Clarín während der Regierung Carlos S. Menem (1989 bis 1999) an. Durch dessen Liberalisierungs und Privatisierungspolitik konnte der Konzern praktisch in allen Medienbereichen Fuß fassen. So gehören ihm heute mit »Radio Mitre« nicht nur die beliebteste Radiostation des Landes, sondern auch zahlreiche Fernsehsender sowie die zwei Kabelnetzbetreiber. Clarín beherrscht 53 Prozent des Zeitungsmarktes, beim Bezahlfernsehen liegt der Marktanteil sogar bei 73 Prozent. Und der Konzern weiß diesen Einfluß zu nutzen: Ob Proteste von Agrarunternehmern, die um ihre Renten fürchten, oder Straßenblockaden von Arbeitslosen­organisationen für mehr Sozialprogramme - alles was gegen die Regierung Fernández de Kirchner geht, wird bei Clarín hochgeschrieben.
(js)




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