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Morgenluft für Opposition

Rechte triumphiert bei Bürgermeisterwahlen in Buenos Aires. Bereits zweite Schlappe für Regierung Fernández de Kirchner. Wiederwahl im Oktober gefährdet

Von Johannes Schulten *

Politische Konjunkturen sind im allgemeinen kurz, in Argentinien sind sie besonders kurz. Das mußte am Sonntag (31. Juli) Staatschefin Cristina Fernández de Kirchner erfahren. Noch vor einem Monat galt sie als haushohe Favoritin für die Präsidentschaftswahlen im Oktober. Vom aussichtsreichsten Oppositionskandidaten Ricardo Alfonsín trennen sie laut aller Umfragen knapp 20 Prozentpunkte.

Nach der am Sonntag zu Ende gegangenen zweiten Runde der Bürgermeisterwahlen in der Hauptstadt Buenos Aires droht diese Stimmung zu kippen. Der Regierungskandidat und ehemalige Bildungsminister Daniel Filmus verlor nicht nur gegen den rechten Amtsinhaber Mauricio Macri, er ging chancenlos unter. Mit historischen 64,25 Prozent der Stimmen gelang es dem Unternehmersohn und ehemaligen Präsidenten des Hauptstadtfußballclubs Boca Juniors sogar, seinen Erfolg von 2007 zu toppen. Damals hatte er ebenfalls über Filmus triumphiert.

Für das Regierungsbündnis Frente para la Victoria (Front für den Sieg–FPV) war es bereits das zweite Wahldebakel innerhalb von zwei Wochen. Schon bei den Regionalabstimmungen in der Agrarprovinz Santa Fé im Nordwesten des Landes kam der FPV-Kandidat Agustín Rossi am vergangenen Wochenende nicht über einen dritten Platz hinaus. Zwar galt ein Sieg gegen die in Santa Fé regierende Sozialistische Partei ohnehin als unwahrscheinlich. Doch Rossi wurde auch noch von dem politisch völlig unerfahrenen Miguel Del Sel überholt. Der war für Macris Partei PRO angetreten. Für die war es der erste große Erfolg außerhalb der Hauptstadt.

Mit zusammen fast 20 Prozent der gesamten argentinischen Stimmberechtigten sind beide Provinzen ein wichtiger Stimmungstest für die Wahlen im Oktober. Beobachter werteten die Ergebnisse als Ausdruck zunehmender Antikirchnerstimmung im Land.

So war es auch weniger die Zufriedenheit Porteños, wie die Einwohner von Buenos Aires genannt werden, mit der Regierungszeit Macris, die der PRO Stimmen brachte, sondern vielmehr die Unzufriedenheit mit der Nationalregierung. Im Gegenteil: Das Gesundheits- und Bildungssystem in der Hauptstadt gilt als völlig unterfinanziert. Nahezu monatlich kam es in den vergangenen vier Jahren zu Streiks in Schulen und Krankenhäusern, weil Heizungen nicht funktionierten oder Gehälter nicht gezahlt wurden. Auch Macri persönlich war in zahllose Skandale verwickelt, darunter Affären wegen abgehörter Telefone von Journalisten, Mitarbeitern sowie einem Vertreter der jüdischen Gemeinde von Buenos Aires. Aktuell ermittelt sogar die Justiz gegen ihn.

Im April hatte er auf eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen verzichtet und setzte statt dessen auf das sichere Ticket in der Hauptstadt. Mit Erfolg, Macri siegte in allen Wahlkreisen der Stadt, wenn auch die Zustimmungswerte im reichen Norden höher waren.

Wie schon 2007 präsentierte er sich als politischer Outsider. Programmatische Aussagen wurden auf die Kritik am »Machtanspruch« der Zentralregierung und der Ankündigung eines härteren Durchgreifens gegen Kriminelle reduziert. Debatten mit anderen Kandidaten blieb er mit der Begründung fern, er diskutiere nicht, sondern mache Politik.

Wie schon Rossi in Santa Fé versuchte auch Filmus ein Abfärben des Ergebnisses auf die Präsidentin zu vermeiden. Denn bereits in zwei Wochen stehen die Präsidentschaftsvorwahlen an. Dann können alle Stimmberechtigten im Land abstimmen, mit welchen Kandidaten die Parteien im Oktober antreten werden. Fernández de Kirchner hofft auch, in der Hauptstadt die meisten Stimmen zu erlangen.

Trotz der jüngsten Niederlagen ist dieses Ziel noch immer möglich. Die Opposition ist völlig zerstritten, und ihr fehlen mehrheitsfähige Kandidaten. Weder Ricardo Alfonsín von der Traditionspartei UCR noch der schon 73jährige Expräsident Eduardo Duhalde (2002 bis 2003), der für den mit Kirchner zerstrittenen rechten Flügel der Peronisten antritt, kommen annähernd an die Umfragewerte der Präsidentin heran. Eine Wahlempfehlung Macris für einen von ihnen könnte die Chancen jedoch erhöhen. Doch der hielt sich bisher bedeckt und plant schon für 2015.

* Aus: junge Welt, 2. August 2011


Macri-Freunde lassen schießen

Im Norden Argentiniens fordert ein brutal ausgeführter Räumungsbefehl vier Menschenleben

Von Benjamin Beutler **


Während in Buenos Aires der wiedergewählte Unternehmer-Bürgermeister Mauricio Macri die Sektkorken knallen läßt, werden im Norden Argentiniens die Opfer einer Räumungsaktion beweint. Drei tote Landbesetzer, ein toter Polizist, 50 Verletzte und drei Schwerverletzte auf der Intensivstation sind die traurige Bilanz eines der brutalsten Polizeieinsätze der letzten Jahre. In den Morgenstunden des Donnerstags war es in der 50 000-Einwohner-Ortschaft Libertador General San Martín zu einer vierstündigen Auseinandersetzung zwischen Einheiten der Polizei und angegriffenen Landbesetzer-Familien gekommen. 350 Polizisten, bewaffnet mit Tränengas, Schlagstöcken und scharfen Schußwaffen waren auf das 15 Hektar große Grundstück in der an Bolivien und Chile grenzenden Provinz Jujuy eingedrungen, das rund 700 Piqueteros-Familien besetzt halten. Auch privates Sicherheitspersonal des Zuckerproduzenten, dem das Terrain gehörte, soll beteiligt gewesen sein.

Unmittelbar nach dem überraschenden Eindringen auf das mit Notunterkünften und Zelten bebaute Areal war es zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen, so Augenzeugen. »Wir wissen noch nicht, wieviele Tote es gibt, viele Menschen kämpfen noch um ihr Leben«, berichtet Krankenhaus-Direktor Roberto Maizel. Alle Todesopfer starben an Kopfschüssen.

Ein Gericht hatte die sofortige Räumung des Geländes angeordnet, geklagt hatte das Zucker-Konsortium »Ledesma S.A.«. Das mächtige Unternehmen kontrolliert den Landbesitz um das Stadtzentrum von San Martín, Eigner-Familie Blaquier gilt als enger Verbündeter des Bürgermeisters von Buenos Aires. Provinzgouverneur Walter Barrionuevo von der sozialdemokratisch-peronistischen »Front für den Sieg« (FPV) hatte am Freitag das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte verurteilt. Kurz zuvor war sein Regierungschef Pablo La Villa zurückgetreten.

Hinter der Räumung steht der lange Arm der rechten Opposition und Unternehmerschaft. Zumindest für den mit der Regierung Fernández de Kirchner verbündeten Barrionuevo, der auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen im Oktober verwies. Schon zu Diktaturzeiten schreckten die »Ledesma«-Eigner vom Einsatz nackter Gewalt zum Schutz ihres Privatbesitzes nicht zurück. Wie die Industrieanlagen von Mercedes Benz und Ford wurde auch in den Zuckerwerken der Familie Blaquier im Namen von »Sicherheit und Fortschritt« gefoltert. Die Oberschicht schließt ihre Reihen. Für ihre »Hingabe und ihren Einsatz für das Land« wurde »Ledesma«-First-Lady Nelly Arrieta de Blaquier von Bürgermeister Macri Dezember 2009 zur »Kulturbotschafterin der Hauptstadt« gekürt.

** Aus: junge Welt, 2. August 2011


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