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"Der Bruch war unumgänglich"

Die argentinische Gewerkschaftsbewegung ist gespalten. Zentraler Punkt ist das Verhältnis zur peronistischen Partei. Ein Gespräch mit Hugo Yasky

Hugo Yasky ist Grundschullehrer und seit 2006 1. Vorsitzender des argentinischen Dachgewerkschaftsverbandes CTA (Zentrale der Argentinischen Arbeiter).


Von Johannes Schulten

Die CTA hat sich zu Beginn der 90er Jahre als Abspaltung aus dem traditionellen Dachgewekschaftsverband CGT gegründet. Damit beendete sie das mehr als 50 Jahre existierende Prinzip gewerkschaftlicher Einheit. Warum war der Bruch nötig?

Die Spaltung war nicht nur nötig, sondern unumgänglich. Die CGT hat sich vollkommen der Regierung vom damaligen Präsidenten Carlos Menem (1989 bis 1999) untergeordnet. Die Privatisierungen Hunderter Staatsunternehmen, die Arbeitsmarktflexibilisierung - nichts von alledem wurde von der CGT-Spitze kritisiert. Im Gegenteil: Die Führungen der großen Mitgliedsgewerkschaften haben sich sogar aktiv daran beteiligt. Für ihre Zustimmung zu Privatisierungen bekamen sie Beteiligungen an den daraus hervorgegangenen Unternehmen. Bei den staatlichen Angestellten der Gewerkschaft ATE und der Lehrergewerkschaft Ctera gelang es, Widerstand zu organisieren - hieraus erwuchs die CTA. Aber innerhalb der CGT etwas zu verändern, war unmöglich. Aus diesem Grund kam es zum Bruch.

Wo liegen die Unterschiede zur CGT?

Wir sind unabhängig. Die CGT versteht sich als Teil der peronistischen Partei (PJ). Darüber hinaus können unsere Mitglieder partizipieren. Während in der CGT nur Funktionäre wählen, gilt in der CTA das Prinzip: ein Mitglied, eine Stimme. Alle Posten, inklusive dem des Vorsitzenden, werden von allen Mitgliedern gewählt. Drittens trennen wir nicht zwischen beschäftigten und nicht beschäftigten Arbeitern - alle Lohnabhängigen können beitreten und werden vertreten. Bei uns organisieren sich sowohl Arbeitslosenorganisationen, Vereinigungen prekär Beschäftigter sowie normale Gewerkschaften. Mehr als ein Drittel der argentinischen Gesellschaft arbeitet im imformellen Sektor oder ist arbeitslos - und ist damit keine traditionelle Gewerkschaftsklientel. Diese Spaltung der Lohnabhängigen muß überwunden werden.

Verglichen mit den 90er Jahren hat sich die politische Großwetterlage in Argentinien erheblich verändert. Die aktuelle Regierung um Cristina Fernández de Kirchner könnte man als Mitte-Links bezeichnen. Wie steht die CTA zu ihrer Politik?

Die Regierung hat eine nachhaltige Abkehr von den neoliberalen Rezepten der 90er Jahren vollzogen, das ist unbestreitbar. Privatisierungen und Flexibilisierung stehen nicht mehr auf der Tagesordnung. Statt dessen wurden etwa die privaten Rentenkassen wieder verstaatlicht oder das aus der Diktatur stammende Mediengesetz erneuert. Noch bedeutender für uns als Gewerkschaft ist, daß die Regierung zum System der jährlichen tripartistischen Tarifverhandlungen zurückgekehrt ist, welches die Regierung Menem ausgesetzt hat. Seither sitzt mit uns und den Unternehmensvertretern auch das Arbeitsministerium wieder mit am Tisch.

Was soll daran fortschrittlich sein?

In Lateinamerika eine Menge. Daß gewerkschaftliche Potential, Tarifforderungen direkt gegenüber den Unternehmen durchzusetzen, ist bei uns schon immer geringer gewesen als etwa in Europa. Das hat vor allem mit dem erheblich geringerem Anteil an formeller Beschäftigung zu tun. Vielfach ist es einfacher, die Regierung politisch unter Druck zu setzen, als Unternehmervertreter bestimmter Branchen, in denen wir unorganisiert sind. Die Lohnsteigerungen der vergangenen Jahre sind die höchsten seit mehr als 20 Jahren.

Gibt es keine Kritik an der Regierung? Die Ungleichheit der Lebensverhältnisse ist immer noch gigantisch ...

Das ist tatsächlich das große Manko. Seit Antritt der Regierung Néstor Kirchner im Jahr 2003 hat sich zwar die Ungleichheit im Vergleich zu den 90er Jahren erheblich vermindert. Sie ist aber immer noch wesentlich höher als in den 70er Jahren.

Was sind die Fehler der Regierung?

Die Regierung traut sich nicht dahin, wo es weh tut: Wir haben immer noch das gleiche Steuersystem wie vor hundert Jahren. Diejenigen, die etwas haben, zahlen genausoviel wie diejenigen, die nichts haben. Anders als in Europa stammt der größte Anteil des Staatsbudgets aus indirekten Abgaben wie der Mehrwertsteuer. Die Belastung durch direkte Steuern für Unternehmen und Privatpersonen ist minimal. Deshalb bleiben die sozialpolitischen Handlungsspielräume auch dann beschränkt, wenn die Ökonomie wächst. Und der Widerstand im Parlament gegen jegliche Ansätze, dies zu ändern, ist massiv. Zudem ist die Regierung in dieser Frage alles andere als homogen.

Ein weitere offene Rechnung der 90er Jahre ist die fehlende Anerkennung der CTA als Gewerkschaftsdachverband. Daran hat sich auch seit 2003 nichts geändert.

Das stimmt. Mit dieser Ablehnung verstößt die Regierung sogar gegen die Charta der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), die gewerkschaftliche Organisationsfreiheit vorschreibt.

Doch auch hier handelt die Regierung nicht, wieso?

In derartigen Fragen steht die Mehrheit der Regierung unter dem Einfluß der CGT. Und diese hat überhaupt kein Interesse an Konkurrenz. Der Großteil der Branchen wird immer noch von ihren Mitgliedsgewerkschaften kontrolliert, wir haben dort bisher kein Vertretungsrecht. Man darf nicht vergessen, wie groß der Einfluß der CGT innerhalb der regierenden peronistischen Partei ist. Für die Regierung ist sie als Basis unerläßlich mit ihrer Mobilisierungsfähigkeit von mehr als vier Millionen Menschen.

Im September wählt die CTA eine neue Führung. Werden Sie wieder kandidieren?

Ja. Am 26. September wählen fast 1,5 Millionen Mitglieder Vertreter auf allen Ebenen, inklusive des Vorsitzenden. Es sieht so aus, daß sich mindestens zwei Listen gegenüberstehen werden.

Was sind die Differenzen?

Das Verhältnis der Zentrale zur Regierung. Viele sind der Ansicht, der Kurs der CTA müsse konfrontativer sein. Ich vertrete die Meinung, daß der momentane Hauptfeind nicht die Regierung, sondern die wieder an Strärke gewinnende Rechte ist. Unter Autonomie verstehen wir, die Regierung zu kritisieren und Druck auszuüben, wenn es nötig ist. Sie aber auch zu unterstützen, wenn sie gute Projekte angeht, die sie alleine nicht gegen die rechte Opposition durchsetzen kann. Das war etwa bei verschiedenen Verstaatlichungen, der Einführung eines allgmeinen Kindergeldes oder der Reform des Mediengesetzes der Fall. Es besteht eine reale Gefahr, daß die Rechte die Wahlen 2011 gewinnen wird. Und was dann kommt, ist ein direktes Rollback in die Politik der neunziger Jahre. Doch die Frage der richtigen Strategie spaltet gerade die gesamte Linke in Argentinien.

* Aus: junge Welt, 18. Mai 2010


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