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Getrübte Demokratiefeier in Argentinien

Polizistenstreik begünstigte Welle gewaltsamer Plünderungen / Kirchner: Ich glaube nicht an Zufall

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires *

Argentinien feierte am Dienstag »30 Jahre ununterbrochener Demokratie«, den Jahrestag des Endes der Militärdiktatur. Das beherrschende Thema des Landes sind aber gewaltsame Plünderungen.

Plünderungen und Ausschreitungen in Argentinien haben ein elftes Todesopfer gefordert. In der Nacht zum Mittwoch wurde in der Provinz Chaco ein mutmaßlicher Plünderer von einem Ladenbesitzer erschossen. In der Provinz Tucumán kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei, Plünderern und teilweise bewaffneten Anwohnern.

Was vor rund einer Woche in der Stadt Córdoba begann, breitete sich rasch auf fast das gesamte Land aus. Rund 1000 Geschäfte und Supermärkte in der mehr als 1,3 Millionen Einwohner zählenden Stadt waren von der ersten Plünderungswelle betroffen. Der Schaden in Córdoba wird auf umgerechnet etwa zwölf Millionen Euro geschätzt.

Lediglich in drei der 23 Provinzen und im Hauptstadtbezirk blieb die Lage bisher ruhig. Dagegen kamen in den nördlichen Provinzen Jujuy, Chaco und Tucumán acht Menschen in Zusammenhang mit den Plünderungen ums Leben, zwei in der Provinz Entre Ríos, eine Person in der Provinz Buenos Aires. Betroffen von den Plünderungen sind Supermärkte, Warenlager, Elektro- und Bekleidungsgeschäfte, aber auch Tante-Emma-Läden.

Der Ablauf ist in nahezu allen Fällen gleich. Zunächst fordern die Polizisten der jeweiligen Provinz eine drastische Lohnerhöhung, bleiben aus Protest in ihren Quartieren und rücken auch bei Notrufen nicht aus. Dann wittert eine Mischung aus organisierten Gruppen, Gelegenheitsräubern und armen Nachbarn ihre Chance. Dass dabei auch Lebensmittel mitgenommen werden, bedeutet nicht, dass es sich um Hungerrevolten handelt.

Abgesehen vom Vorgehen organisierter Gruppen, wird hier die sich wieder vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich deutlich. Die seit gut acht Jahren hohe Inflationsrate, die dieses Jahr zwischen 20 und 30 Prozent liegt, frisst die Kaufkraft der unteren Gesellschaftsschichten auf und wird auch nicht von staatlicher Unterstützung aufgefangen.

Argentinien ist auch im zwölften Jahr nach der großen Krise von Dezember 2001 ein soziales Pulverfass. Dass die Polizisten eine drastische Lohnerhöhung fordern, wird von der Bevölkerung durchaus akzeptiert. Zu den in vielen Provinzen rasch vereinbarten Lohnerhöhungen kam es deshalb nicht nur wegen der drohenden Eskalation. Die Lage hat sich deshalb dort wieder beruhigt, wo die Polizei wieder in den Straßen patrouilliert.

Dass die Erschütterungen ausgerechnet zum 30. Jahrestag der Rückkehr zur Demokratie durch das Land gehen, hat die Regierung verärgert. Am 10. Dezember 1983 hatte der demokratisch gewählte Präsident Raúl Alfonsín Foulkes sein Amt angetreten und eine achtjährige Militärdiktatur beendet. In ihrer Ansprache während der offiziellen Feierstunde sprach Präsidentin Cristina Kirchner de Fernández von »geplanten und mit chirurgischer Präzision« vor dem Jahrestag durchgeführten Aktionen. Sie glaube nicht an Zufälle.

Kritisch äußerte sie sich auch über das Verhalten der Polizei. Diese müsse sich ebenfalls in die Demokratie einfügen. »Die Waffen, die sie trägt, sind zum Schutz der Bevölkerung und nicht gegen sie,« sagte Cristina Kirchner und erinnerte damit an die Rolle der Polizei während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983. Für die politische Opposition, die der Feierstunde weitgehend ferngeblieben war, ist das alles nur ein Versuch der Ablenkung von den sozialen Konsequenzen der Regierungspolitik.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 12. Dezember 2013


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