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"Zanon ist Schützengraben des Klassenkampfes"

Keramikfabrik im Süden Argentiniens steht seit 2002 unter Kontrolle der Arbeiter. Aktivist ist derzeit auf Europa-Rundreise. Gespräch mit Raúl Godoy *


Raúl Godoy ist einer der mehr als 400 Arbeiter der Zanon-Fabrik, die auch unter dem Namen »FaSinPat« (»Fabrica sin Patrones«, »Fabrik ohne Chefs«) bekannt ist. Seit 2012 ist er auch Abgeordneter im Parlament der argentinischen Provinz Neuquén.

Wie begann die Geschichte von Zanon als selbstverwaltete Fabrik?

Unser erstes Gefecht bestand darin, unsere Gewerkschaft zurückzuerobern. die damals eine gelbe, also von Unternehmern »gekaufte«, war. Wir mußten uns konspirativ organisieren, konnten aber die Gewerkschaftswahlen gewinnen. Dann mußten wir alle Kollegen davon überzeugen, daß wir ein Programm brauchen. Wir haben alles in der Vollversammlung diskutiert und entschieden. Wir haben nicht nur die festangestellten Keramikarbeiter verteidigt, sondern auch die prekär Beschäftigten. Unsere neue Gewerkschaftsführung und alle Delegierten waren direkt gewählt und auch jederzeit abwählbar.

Wie kam es zur Betriebsbesetzung?

In der Krise 2001 wurde die Mehrheit der Belegschaft entlassen. Wir hatten die Wahl, entweder Abfindungen zu akzeptieren oder die Arbeitsplätze zu verteidigen. Die Vollversammlung hat schließlich die Öffnung der Geschäftsbücher verlangt, um zu beweisen, daß durchaus Geld vorhanden war.

Es gab einen erfolgreichen 34tägigen Streik. Die Arbeiter konnten sich überzeugen, daß sie in der Lage waren, Entlassungen zu verhindern – genauso konnten sie auch die Schließung der Fabrik verhindern, die wenige Monate später angekündigt wurde.

Was unterscheidet Zanon von anderen Betrieben in Argentinien, die 2001 besetzt wurden?

Wir wollten nie nur eine auf sich allein gestellte Kooperative werden. Statt dessen forderten wir immer die Verstaatlichung der Fabrik unter Arbeiterkontrolle. Außerdem haben wir eine landesweite Bewegung von »zurückeroberten« Betrieben initiiert, innerhalb derer wir für die Perspektive der Verstaatlichung eingetreten sind. Unser Leitspruch war »Zanon gehört der Bevölkerung«, um zu unterstreichen, daß die Fabrik nicht unser Eigentum war, sondern wir sie in den Dienst der Bevölkerung stellen wollen, vor allem in Hinsicht auf den Bau von Sozialwohnungen.

Wir haben uns mit der Bewegung der Erwerbslosen verbunden, die uns vor allem während der Räumungsversuche verteidigt haben. Wir konnten eine erhebliche Produktivitätssteigerung erreichen und dadurch 170 neue Arbeitsplätze schaffen, die an Genossen aus der Erwerbslosenbewegung gingen. Wir haben uns mit der indigenen Gemeinschaft der Mapuche über den Abbau von Tonerde verständigt. Die örtliche Universität hat uns bei der Planung der Produktion geholfen. Wir haben gemeinsam mit kämpferischen Gewerkschaftsgruppen im ganzen Land die Zeitung Nuestra Lucha (Unser Kampf) herausgegeben. Wir wollten von vornherein nicht nur uns selbst retten oder ein »Inselchen des Sozialismus« schaffen. Zanon ist ein Schützengraben des Klassenkampfes.

Wie ist die Lage im Moment?

Es ist oft schwierig für uns als Gewerkschaft, weil immer wieder versucht wird, uns Arbeitern eine Gehirnwäsche zu verpassen, damit wir die Gesetze der Ausbeuter anerkennen und das Privateigentum nicht in Frage stellen. Durch den Kampf haben die Kollegen aber verstanden, daß das Entscheidende nicht das Gesetztesblatt ist, sondern das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen.

Nach zehn Jahren des Kampfes hat die Regierung der Provinz Neuquén im August 2010 beschlossen, die Fabrik zu enteignen. Das war unser Erfolg, denn mit unserem Protest haben wir die bürgerlichen Institutionen in Zugzwang gebracht.

Was ist das Ziel Ihrer Europa-Reise?

Wir haben stets den proletarischen Internationalismus verteidigt und ihn auch in den Statuten der Gewerkschaft der Keramikarbeiter und -angestellten Neuquéns (SOECN) festgeschrieben. Im gegenwärtigen Moment der Krise in Europa erschien uns der Austausch zwischen Arbeiteraktivisten besonders wichtig. In Barcelona und Paris konnte ich nicht nur auf großen Veranstaltungen sprechen, sondern auch Arbeiter bei PSA und Goodyear besuchen, die gerade gegen Entlassungen kämpfen. Diese Woche spreche ich auf mehreren Veranstaltungen in Athen und besuche auch die besetzte Metallfabrik in Thessaloniki, die seit mehreren Monaten unter Arbeiterkontrolle steht. Am Samstag bin ich schließlich in Berlin. Wir wollen andere inspirieren.

Interview: Wladek Flakin

* junge Welt, Dienstag, 21. Mai 2013


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