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Von Kirchner zu Kirchner

Senatorin für Buenos Aires und Ehefrau des Amtsinhabers gewinnt die Präsidentschaftswahl in Argentinien

Von Harald Neuber *

Die Umfragen lagen richtig: Im ersten Wahlgang hat Cristina Kirchner, die Senatorin für die Provinz Buenos Aires und Ehefrau des amtierenden Staatschefs Néstor Kirchner, die Präsidentschaftswahl am Sonntag gewonnen. Die 54jährige setzte sich gegen insgesamt 13 Herausforderer durch. Nach der Auszählung von rund 80 Prozent der Stimmen lag Kirchner am Sonntag abend (Ortszeit) bei rund 44 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die nächstplazierte Herausforderin Elsa Carrió vom linksliberalen »Bürgerbündnis« kam auf 23 Prozent. Der ehemalige Wirtschaftsminister Roberto Lavagna von der rechtsgerichteten Gruppierung »Eine Fortschrittliche Nation« (UNA) landete mit knapp 18 Prozent auf Platz drei. Kaum eine Rolle spielte der Cineast Fernando »Pino« Solares. Als Kandidat der »Authentischen Sozialistischen Partei« kam er lediglich 1,6 Prozent.

Die Wahlsiegerin zeigte sich am Sonntag abend zurückhaltend. Zwar deklarierte sie sich bereits nach dem vorläufigen Ergebnis als Siegerin. In Anbetracht der Umfragen, acht von zehn hatten sie vorn gesehen, bestritt dies kaum jemand. Beschwerden von sieben Parteien wegen vermeintlich verlorengegangener Wahlzettel spielten nur am Rande eine Rolle, sie sollen nun von der Wahlbehörde geprüft werden. Die designierte Präsidentin zeigte sich am Sonntag abend derweil an der Seite des Amtsinhabers, ihres Ehemannes. Sie sehe sich durch das Ergebnis nicht in einer privilegierten Position, sagte Cristina Kirchner, »sondern in einer Position mit größerer Verantwortung«.

Das zumindest spricht für ihren Realismus. Denn die »Argentinien-Krise«, in deren Verlauf 2001 das Finanz- und Bankensystem des südamerikanischen Landes zusammenbrach, ist noch nicht überwunden. Nach wie vor herrscht eine große Einkommensungleichheit, vor allem junge Menschen sind mehrheitlich unterbeschäftigt. Politische Gegner werfen dem scheidenden Präsidenten vor, die offizielle Inflationsrate von zuletzt acht bis zehn Prozent pro Jahr künstlich niedrig zu halten. Die Rückkehr zu neoliberalen Konzepten ist in Argentinien angesichts dieser Erblast nicht möglich, eine Abkehr aber nicht gewollt. So wird Buenos Aires sich weiter zwischen der Öffnung gegenüber den Industrienationen und der vor allem von Venezuela vertretenen regionalen Integration bewegen.

* Aus: junge Welt, 30. Oktober 2007


Kommentar:

K.-K.-Demokratie

Von Harald Neuber *

Seit den achtziger Jahren hat der Neoliberalismus eine Spur der Verwüstung in Lateinamerika hinterlassen. Die von IWF und Weltbank befohlene Deregulierung der Märkte mündete in dieser Zeit zunehmend in sozialen Auseinandersetzungen. In zweiter Konsequenz sind die traditionellen Parteigefüge zerbrochen. In dem Maße wie die etablierten politischen Gruppierungen an Macht verloren, gewannen aber die sozialen Bewegungen an Einfluß. Es ist kein Zufall, daß die Regierungsparteien in Venezuela und Bolivien sich nicht als solche bezeichnen. In Caracas regiert die »Bewegung Fünfte Republik«, in La Paz die »Bewegung zum Sozialismus«.

Während in Venezuela der hunderttausendfache Aufstand während des »Caracazos« im Februar 1989 das Ende des klientelistischen Parteiensystems besiegelte, so stürzten 2003 die sozialen und indigenen Bewegungen in Bolivien den neoliberalen Gewährsmann Gonzalo Sánchez de Lozada. Ähnliches ereignete sich in Argentinien. Das Diktat von IWF und Weltbank hatte das Finanzsystem des einst wohlhabenden Einwanderungslandes zerstört. Als es Ende 2001 zusammenbrach, gingen die Bilder aus Argentinien um die Welt. Zu Tausenden drängten sich die Menschen vor den Banken, in der Hoffnung, ihre Ersparnisse zu retten. Ohne Erfolg: Große Teile der Bevölkerung zahlten mit ihren Einlagen für die Politik der Spekulanten. Der politische und soziale Aufstand folgte damals einem gemeinsamen Motto: Que se vayan todos! – Alle sollen gehen! Den politischen nach dem wirtschaftlichen Bankrott belegt auch eine andere Zahl. Binnen acht Wochen wechselten sich in der Casa Rosada, dem Präsidentenpalast, vier Staatschefs ab.

Dann kamen die Kirchners. Dem amtierenden Präsidenten Néstor Kirchner ist es gelungen, die peronistische Gerechtigkeitspartei (PJ) geschickt zu kontrollieren, ohne mit ihr identifiziert zu werden. Nach der Regierungsübernahme 2003 beschränkte er sich auf ein Krisenmanagement, während um ihn herum die alten Parteien zerfielen.

Mit dem Wechsel der Amtsgeschäfte zur Senatorin für Buenos Aires, seiner Ehefrau Cristina Kirchner, geht der Plan auf. Indem sie sein Regierungsprogramm fortführt, wird er die PJ neu aufbauen – und damit eine Erneuerung des demokratischen Systems verhindern. Denn während in Venezuela und Bolivien die sozialen Bewegungen das Ruder übernommen haben, setzt der Peronismus – ob progressiv oder nicht – auf das genaue Gegenteil: den Ausgleich zwischen den Polen der politischen Elite. Wie der »Moncloa-Pakt« in Spanien nach dem Ende des Faschismus oder das Bündnis »Concertación« aus Christ- und Sozialdemokraten nach dem Abtritt des chilenischen Diktators Pinochet soll so ein wirklicher politischer Wechsel verhindert werden. Bis jetzt hat diese Politik Erfolg: Von den Protesten der »Piqueteros«, der Arbeitslosen, spricht in Argentinien heute niemand mehr.


* Aus: junge Welt, 30. Oktober 2007


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