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Chronik eines unerwarteten Aufschwungs

Argentinien fünf Jahre nach der Krise – Präsident Néstor Kirchner stellte sich dem Erbe

Von Antje Krüger *

Vor vier Jahren trat der weithin unbekannte Provinzpolitiker Néstor Kirchner die Präsidentschaft Argentiniens an, nachdem Ex-Präsident Carlos Menem (1989-1999) bei der Stichwahl kniff. Inzwischen genießt Kirchner hohe Popularität, denn nach der tiefen Wirtschaftskrise kann er sich im Aufschwung sonnen.

Der Anspruch war hoch: »Die Politik, die Institutionen und die Regierung müssen mit dem Volk wieder versöhnt werden«, sagte am 25. Mai vor vier Jahren Néstor Kirchner. Der Mann aus Feuerland trat an diesem Tag im Jahr 2003 sein Amt als argentinischer Präsident an. Und ein schweres Erbe. Er war der erste nach der argentinischen Krise vom Dezember 2001 gewählte Präsident. Seine Antrittsrede war die Antwort auf den Slogan »Sollen sie doch alle gehen!«, mit dem die Bevölkerung die Politiker damals zum Teufel wünschte. »Erlösen können wir uns nur selbst«, sagte damals auch der Journalist Miguel Bonasso. Sein Satz setzte einen Punkt, ihm folgten keine weiteren Worte. Nur der Versuch, die Hoffnung nicht aufzugeben.

Ende des Traums von der »Ersten Welt«

Draußen vor dem Fenster des kleinen Büros in Kongressnähe war Buenos Aires Ende 2001 kaum wiederzuerkennen. Die Stadt, berühmt für ihr Leben rund um die Uhr, wirkte wie gelähmt. Angst krallte sich fest, niemand wusste wirklich, wie es weiter gehen sollte oder ob es nicht noch schlimmer kommen würde. Eine Szene kurz nach Argentiniens komplettem Zusammenbruch, wirtschaftlich, politisch, sozial. Im tausendfachen Lärm wütend geschlagener Topfdeckel wachte das Land damals aus dem Traum auf, in der »Ersten Welt« angekommen zu sein. Wie die Fenster der geplünderten Supermärkte zersplitterten alle Gewissheiten, die Argentinien bis dahin zu haben meinte. Was folgte, war der freie Fall, scheinbar ohne Weg zurück. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung rutschte an die Armutsgrenze. Kinder verhungerten im Land des Rindfleischs und der Agrikultur. Die offizielle Arbeitslosigkeit stieg auf über 25 Prozent, die Dunkelziffer lag weit höher. »Selbst unsere Würde haben sie uns gestohlen«, sagte damals der Taxifahrer Alejandro Carrizo.

Fünf Jahre später. In Buenos Aires pulsiert das Leben. Cafés und Restaurants sind voll besetzt, Frauen schlendern mit mehreren Tüten Einkaufspassagen entlang. Männer in Anzügen sprechen hektisch in Handys. Alle paar Meter wird ein Taxi angehalten. Touristen outen sich mit ihren Kameras um den Hals. Die Zeichen finden sich noch, die damals für Armut und Verzweiflung standen: Menschen, die den Müll durchwühlen und daraus einen »Beruf« machten, obdachlose Kinder, protestierende Arbeitslose, selbstorganisierte Suppenküchen. Doch prägen sie nicht mehr das Stadtbild.

»Argentinien hat sich, zumindest oberflächlich, wieder gefangen. Das Leben funktioniert und die Zeitungen vermelden neun Prozent jährliches Wirtschaftswachstum, das Sinken der Arbeitslosenquote auf elf Prozent und nur noch Armut bei einem Drittel der Bevölkerung. Doch der Überlebenskampf ist nicht vorbei. Vor fünf Jahren wurde er auf die Straße getragen, jetzt ist er hinter die Wohnungstüren zurückgekehrt. Trotz allem wird dadurch das Gefühl vermittelt, die Krise wäre Geschichte«, erklärt die Politologin Cecilia Lucca. Ob in besetzten Betrieben, in Arbeitslosenorganisationen oder Stadtteilversammlungen – die Argentinier suchten nach Lösungen und fanden sie größtenteils. Ihre Kreativität war dabei der einzige Ausweg. Und ein Präsident, den niemand kannte und der mit nur 22 Prozent der Stimmen die Wahl gewann – das kleinere Übel, weil sein Stichwahlgegner zurücktrat. Rückgewinnung und Wiederaufbau Argentiniens versprach dieser unscheinbare Mann und bewies überraschend Mut und Volksnähe. »Das Land ist krank von Korrup-tion und sozialer Misere. Die Kur muss drastisch sein, und das erfordert Mut«, schätzte Miguel Bonasso die Situation ein.

Konsequenz als Markenzeichen

Néstor Kirchner antwortete. Der Peronist brach mit der Tradition der Selbstbeweihräucherung und ging Themen von großer Popularität an, was ihm die Zustimmung von über 80 Prozent der Bevölkerung brachte. Höhepunkte waren dabei die rigorose Ächtung der Verbrechen der Diktatur (1976-1983) und der Kampf gegen die Korruption, der zu Absetzungen in Polizei und Oberstem Gerichtshof und zu Prozessen führte. »Néstor schmeißt die Mafia raus«, feierte ein Graffiti in Buenos Aires diese unerwartete Konsequenz.

Konsequenz ist Kirchners Markenzeichen. Konsequent war die unnachgiebige Haltung seiner Regierung bei der Schuldenfrage. Argentinien hatte die Zahlungsunfähigkeit erklärt, und Kirchner setzte gegen erbitterten Widerstand einen Verzicht der privaten Gläubiger auf 75 Prozent ihrer Forderungen von rund 100 Milliarden Dollar durch. Doch dann zahlte er ebenso konsequent nach stetigen Überschüssen im Staatshaushalt, wachsendem Bruttoinlandsprodukt und hohen Exportsteuereinnahmen die Schulden beim Internationalen Währungsfonds 2005 vollständig zurück. »Kirchner hat Glück und Soja«, wird gesagt, denn das hohe Wirtschaftswachstum und die sinkenden Arbeitslosenzahlen resultieren in erster Linie aus der Landwirtschaft – und Investitionen in öffentliche Bauten. Konsequent ist aber auch Kirchners Regierungsstil per Sonderrechte und Dekrete, von denen er schon über 200 Mal Gebrauch machte. Für die einen häuft er damit Macht an, für die anderen ist er jedoch der Mann, der endlich durchgreift.

Nicht nur in der Politik, auch in der Wirtschaft hat sich einiges geändert. Schichtwechsel im Aluminiumwerk IMPA. Ein Trupp kommt in Blaumännern, der andere geht. Alltag und doch nichts Alltägliches. Die IMPA wird von den Arbeitern selbst verwaltet. Ein »Überbleibsel« aus der Krise, als Selbstorganisation lebensnotwendig war und Tauschmärkte und Nachbarschaftsversammlungen entstanden, Arbeitslose sich organisierten. Aus der Not heraus entwickelte sich damals eine neue Zivilgesellschaft, die verhinderte, dass Argentinien im Chaos versank. Doch je mehr das Leben wieder in gewohnte Bahnen glitt, um so stärker verloren sich Engagement und Solidarität. Daran erinnert man sich mit leichter Wehmutt, wie an einen Jugendtraum. »Die Hoffnung auf Veränderung unserer Gesellschaft von unten her ist nicht aufgegangen. Spalterei und Machtwahn haben leider auch diese Alternativen untergraben. Aber die Erinnerung an andere Möglichkeiten hat sich festgesetzt, wie ein winziges Saatkorn. Das ist eine unauslöschbare Leistung«, so Cecilia Lucca.

Und die Saat trägt Früchte, wenn auch jenseits des öffentlichen Interesses. Gut 150 Betriebe sind in die Hände der Arbeiter übergegangen, und die Arbeitslosenbewegung wurde zum, wenn auch sehr umstrittenen, Machtfaktor. Ein Teil verbündete sich mit Präsident Kirchner – sein »Heer der Arbeitslosen«. Die Selbstorganisation der Argentinier, die als gesellschaftliches Phänomen begann, blühte im Privaten voll auf. Sie prägt heute das lebendige Stadtbild von Buenos Aires. »Meine Ersparnisse waren nach der Krise in der Bank eingefroren. Ich durfte sie nur in Sachgütern anlegen. Statt das Geld gar nicht zu haben, sollte es für mich arbeiten. Also kaufte ich Möbel und machte dieses Café auf«, sagt Catalina Woyczinski in ihrer Bar im Stadtteil Palermo. Gleich nebenan findet sich ein Modeladen, ein Restaurant, ein Schmuckkästchen – die Straße ist voll.

Die fast untergegangene Mittelschicht sah hier ihre Lösung und kurbelte nebenbei Wirtschaft und Tourismus mit an. Die Krise brachte die Geldabwertung, die Geldabwertung machte Importe zu teuer, der interne Markt musste gesättigt werden, kleine Unternehmen und besetzte Betriebe setzten hier an. Die Geldabwertung machte Argentinien finanziell attraktiv für Touristen, eine ganze Branche entwickelt sich neu. Und der Staat hilft mit Minikrediten eigenen Projekten auf die Beine.

Spekulationen über eine Dynastie

Nun wird am 27. Oktober in Argentinien wieder ein Präsident gewählt. Kein Krisenpräsident, denn die Wahl findet in verhältnismäßig stabilen, wenn auch sich neu ordnenden politischen Verhältnissen statt. Eigentlich liefen Kirchners vier Jahre Amtszeit im Mai aus. Doch die Krise vor fünf Jahren brachte ihm das Argument für Wahlen erst im Oktober: Kirchner hatte das Mandat des geflohenen Präsidenten Fernando de la Rúa weitergeführt. Dessen Amtszeit wäre im Dezember 2003 ausgelaufen, weshalb Kirchners offizielle Amtszeit, so die Erklärung, nicht im Mai, sondern im Dezember 2003 begann. Der Präsident selbst schweigt sich noch immer über eine neue Kandidatur aus. Im Gespräch aber ist seine Frau, Cristina Fernández. Strategen glauben, dass das Ehepaar so gemeinsam eine lange Regierungszeit anstrebt – vier Jahre Néstor, vier oder bei Wiederwahl acht Jahre Cristina und dann noch eine erneute Kandidatur des heutigen Präsidenten.

Doch das sind Spekulationen. In Argentinien ist kaum etwas vorherzusagen. Mit der Möglichkeit, dass das Land fünf Jahre nach der Krise wieder obenauf ist und sich ein Niemand als Präsident bewährt, hatte schließlich auch keiner gerechnet.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Mai 2007


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