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Lebenslänglich für den "Todesengel"

Ehemalige argentinische Militärs wegen Verbrechen in der Diktaturzeit verurteilt

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires *

Argentiniens Justiz schreibt weiter Geschichte. Wegen Menschenrechtsverbrechen während der letzten Militärdiktatur (1976-1983) verhängte das 5. Bundesgericht in der Hauptstadt Buenos Aires zwölf lebenslange Haftstrafen.

Unter den zu lebenslanger Haft Verurteilten ist der als »blonder Todesengel« bekannte Kapitän Alfredo Astiz. Die Verbrechen nahmen ihren Ausgang in der berüchtigten Marine-Mechanikerschule ESMA in Buenos Aires, die in ein geheimes Folterlager verwandelt worden war.

Vor dem Gerichtsgebäude hatten rund 1000 Menschen auf einer Großbildleinwand die Verhandlung verfolgt. »Justicia, Justicia« (Gerechtigkeit) forderten die Versammelten. Bei der Urteilsverkündung brandeten zwölfmal Jubel und Beifall auf. Zwölfmal sprach Richter Ricardo Farías das Wort »perpetua« - lebenslänglich.

Bei vielen war aber auch die Erleichterung zu spüren, dass nach über 30 Jahren Straflosigkeit diese Urteile von einem Gericht verhängt wurden. Taty Almeida von den Müttern der Plaza de Mayo sprach von einem »weiteren historischen Tag, von dem wir Mütter nie gedacht haben, ihn erleben zu können«.

Im Gericht herrschte konzentrierte Stille, als Farías im Tonfall eines trockenen Juristen über eine Stunde lang die Urteile verlas. Angeklagt waren 18 frühere Militärs. Neben den zwölf »Lebenslang« wurden Gefängnisstrafen zwischen 18 und 25 Jahren verhängt. Zwei Männer wurden freigesprochen. Sie bleiben aber wegen anderer Anklagen weiter in Haft. Einzig bei Astiz musste Richter Farías zur Ordnung rufen. Im Saal wurden »Mörder, Mörder«-Rufe laut, über das Gesicht des »Engels« ging ein Lächeln.

Im Prozess ging es zum einen um Ermordung, Folter und Verschwindenlassen von 79 Menschen. Die Ermittlungen zu den Verbrechen wurden bereits in den 80er Jahren abgeschlossen. Die Verantwortlichen mussten sich aber wegen der 1985 und 1986 in Kraft getretenen Amnestiegesetze nie vor Gericht verantworten.

Es ging um die Entführung und das Verschwindenlassen des Schriftstellers Rodolfo Walsh. Der Journalist und Erzähler wurde verschleppt und am 25. März 1977 ermordet. Kurz zuvor schrieb er einen »Offenen Brief eines Schriftstellers an die Militärjunta«, der als eine der frühesten und prononciertesten Anklagen gegen die Militärherrschaft gilt.

Und es ging um die Ermordung der französischen Nonnen Alice Domon und Leonie Duquet sowie einer der Gründerinnen der Mütter der Plaza de Mayo, Azucena Villaflor de Vincenti. Die drei Frauen waren 1977 verschleppt und umgebracht worden. Ihre Leichen wurden von Hubschraubern aus ins Meer geworfen. Der heute 59-jährige Astiz spielte dabei eine entscheidende Rolle.

Der Blonde mit den unschuldigen Augen hatte sich unter dem Namen Gustavo Niño als Angehöriger eines verschwundenen Dissidenten ausgegeben. So erschlich er sich den Zugang zu einer Gruppe von Müttern der Plaza de Mayo, die sich in einem Viertel am Rand von Buenos Aires in der Kirche Santa Cruz trafen und nach ihren verschwundenen Männern und Kindern suchten. Im Dezember 1977 griffen die Militärs zu. Zwölf Menschen wurden verschleppt.

1990 wurde Astiz wegen des Mordes an den zwei Nonnen von einem französischen Gericht in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Das gleiche Urteil fällte ein italienisches Gericht 2007 wegen der Ermordung italienischer Staatsangehöriger. Eine Auslieferung hatte Argentinien in beiden Fällen abgelehnt. Astiz profitierte lange von den Amnestiegesetzen.

In den 22 Monaten der Verhandlung wurden 160 Zeugen gehört, von denen 79 die Gefangenschaft in der ESMA und anderen geheimen Lagern der Diktatur überlebt hatten.

Während des Prozesses hatte der zu lebenslanger Haft verurteilte Korvettenkapitän Jorge Acosta als erster Militär die Existenz eines geheimen Folterlagers vor einem Gericht zugegeben und zudem ausgesagt, dass seine Vorgesetzten über die Gefangenen in der ESMA Bescheid wussten.

Das nun abgeschlossene Verfahren ist der erste Abschnitt eines umfassenderen Prozesses. Bei der sogenannten Megacausa ESMA müssen sich rund 70 ehemalige Militärangehörige der ESMA wegen 800 Menschenrechtsverletzungen vor Gericht verantworten. Die Mechanikerschule war das größte geheime Haft- und Folterzentrum in der Hauptstadt Buenos Aires. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass dort mehr als 5000 Menschen gefoltert wurden und verschwanden.

* Aus: neues deutschland, 28. Oktober 2011


"Todesengel" Astiz in Argentinien zu lebenslänglich verurteilt **

Der als »Todesengel« berüchtigte frühere Junta-Offizier Alfredo Astiz ist in Argentinien zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Astiz wurde wegen Entführungen, Folter und Mordes während der argentinischen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 verurteilt, wie der Vorsitzende Richter Daniel Obligado am Mittwoch (26. Okt.) in Buenos Aires sagte. Besonders bekannt ist der Fall zweier getöteter französischer Nonnen.

Zusammen mit Astiz standen 17 weitere ehemalige Armeeangehörige vor Gericht. Insgesamt wurden ihnen fast einhundert Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Die meisten Angeklagten erhielten lebenslange Haft oder langjährige Gefängnisstrafen, zwei wurden freigesprochen. Unter anderen wurde der frühere Außenminister Oscar Montes zu »lebenslänglich« verurteilt.

»Mörder, Mörder« riefen Angehörige von Opfern nach der Urteilsverlesung. Das Foto zeigt Mütter der Plaza de Mayo nach der Urteilsverkündung. Die Organisation vereinigt Frauen, deren Angehörige während der Diktatur verschwanden.

Die Nonnen Alice Domon und Léonie Duquet waren im Dezember 1977 verschleppt worden. Mit ihnen wurden zehn weitere Aktivistinnen entführt, darunter die Gründerin der Mütter der Plaza de Mayo. Es wird angenommen, daß Duquet und vier Argentinierinnen lebend aus einem Flugzeug ins Meer geworfen wurden. Ihre Leichen wurden 2005 auf einem Seefriedhof entdeckt, auf den Grabsteinen stand »N.N.«. Anwohner hatten die Toten entdeckt, als sie an Land gespült wurden.

Zur Zeit der Militärdiktatur war Astiz in der Marineingenieursschule ESMA in Buenos Aires tätig – einem der Folterzentren der Junta, das als Symbol für die Gewalt in die Geschichte einging. Dort sollen rund 5000 Menschen mißhandelt worden sein. Insgesamt wurden nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen bis zu 30000 Menschen während der Diktatur gefoltert, ermordet oder verschwanden spurlos. (AFP/jW)

** Aus: junge Welt, 28. Oktober 2011


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