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Argentiniens offene Wunde

Attentat auf AMIA seit 15 Jahren ungesühnt

In Argentinien wird am Sonnabend des Anschlags auf das jüdische Hilfswerk AMIA am 18. Juli 1994 gedacht. Der Tod von 85 Menschen löste seinerzeit die größte Ermittlungsaktion in der argentinischen Rechtsgeschichte aus, die Akten umfassen mittlerweile 120 000 Seiten. Doch bis heute ist noch niemand für den Anschlag verurteilt worden. ND sprach mit Aldo Donzis, Präsident der DAIA (Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas), die rund 150 jüdische Organisationen, Schulen und Synagogen vereint. Das Interview (für das "Neue Deutschland"-ND) führte Jürgen Vogt in Buenos Aires.



ND: 15 Jahre nach dem Bambenanschlag auf das jüdische Hilfswerk AMIA in Buenos Aires ist noch niemand dafür juristisch belangt worden. Wie bewerten Sie diese Tatsache?

Donzis: Das ist mehr als ein Skandal. Es bleibt eine offene Schuld gegenüber den Opfern und deren Angehörigen, der jüdischen Gemeinde und der argentinischen Gesellschaft. Es ist schwer, von Gerechtigkeit zu reden, wenn es keine gibt. Und wenn heute, 15 Jahre danach, Gedenkveranstaltungen stattfinden, dann geht es nicht nur um ein Erinnern an die Opfer und die Tat, sondern immer auch um die Forderung nach Aufklärung und Gerechtigkeit.

Warum kommt die juristische Aufarbeitung nicht voran?

Die Justiz hat noch immer keinen Verdächtigen. Die zuständigen Richter und Staatsanwälte kommen und gehen. Es gab ein Anhörungsverfahren, an dessen Ende das Gericht das ganze Verfahren annullierte. Anfang Juni 2009 stellte das Oberste Gericht auf Grund unseres Widerspruchs jedoch fest, dass man nicht einfach alles für null und nichtig erklären kann. Das eröffnet die Möglichkeit, weiter den juristischen Weg zu beschreiten. Und zwar in Bezug auf die lokalen Verbindungen. Denn der Fall AMIA ist vielfältig. Eine Spur führt nach Iran. Von dort wurde das Attentat angeordnet und finanziert. Ein anderer Verfahrensgegenstand sind die örtlichen Verbindungen: In Argentinien musste jemand einen Lastwagen für die Bombe besorgen, jemand musste den Sprengstoff besorgen, es gab also Beteiligte in Argentinien selbst. Und das Urteil des Obersten Gerichts macht es möglich, diesen Teil des Verfahrens wieder aufzunehmen und nach den Verantwortlichen in Argentinien zu fahnden.

15 Jahre Straflosigkeit bedeuten auch, dass die Opferangehörigen ohne Entschädigung geblieben sind. Kürzlich hat der Senat zwar einem Entschädigungsgesetz zugestimmt, aber noch immer liegt das Votum des Abgeordnetenhauses nicht vor.

Die Familienangehörigen der Opfer haben sich in unterschiedlichen Gruppen zusammengeschlossen. Manche haben individuelle Entschädigungen angenommen, andere haben Prozesse gegen die Regierung angestrengt. Die DAIA wird sich da nicht einmischen, denn die Gruppen gehen verschiedene Wege und es ist ihre Entscheidung, Entschädigungen zu akzeptieren oder nicht.

Stimmt es, dass Studien der DAIA einen Anstieg antisemitischer Vorfälle in der ersten beiden Monaten dieses Jahres um 70 Prozent ausweisen?

Ja, die Zahl stimmt und sie erregt Besorgnis. Man muss aber auch den Kontext sehen. In den ersten Monaten des Jahres 2009 gab es den Krieg im Gaza-Streifen. Ein Konflikt im Nahen Osten findet sein Echo in vielen Ländern und Gesellschaften mit Demonstrationen und Willensbekundungen dafür oder dagegen. Als der Konflikt im Gaza-Streifen eskalierte, waren auch in Argentinien verschiedene Gruppen aktiv, die sich gegen die Politik der israelischen Regierung aussprachen. Das schlug aber schnell auch in ausgesprochen antisemitische Kundgebungen um. Da las man Transparente mit der Aufschrift »Juden – Mörder« oder sah Hakenkreuze. Das ist gegen die jüdische Gemeinschaft gerichtet.

Gibt es einen lateinamerika-übergreifenden Antisemitismus?

Es gibt Verbindungen, die über die Grenzen reichen und die heute mehr Besorgnis auslösen als früher. Es gibt Hinweise darauf, dass die iranische Ideologie in ganz Lateinamerika vordringt. Wenn ich von Iran spreche, spreche ich nicht vom iranischen Volk, sondern vom Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Der leugnet nicht nur den Holocaust, sondern propagiert auch die Zerstörung des Staates Israel. Das hat er öffentlich bekundet und das hat sein Echo gefunden in bewaffneten Gruppen wie Hisbollah und Hamas. Das verbreitet sich auch in Lateinamerika, wo viele Gruppen sich diese Auffassungen zu Eigen machen und hauptsächlich in Argentinien damit auf die Straße gehen.

Präsidentin Cristina Kirchner ist aktiv geworden und hat auf ihren venezolanischen Amtskollegen Hugo Chávez eingewirkt, damit er sich mit Vertretern der jüdischen Gemeinde in Venezuela zusammensetzt.

Ja, wir haben Präsidentin Cristina Kirchner gebeten, nach Venezuela zu reisen und sich mit den Vertretern der jüdischen Gemeinde in Venezuela zu treffen. Das hat sie gemacht und sich dabei auch für ein Treffen von Präsident Hugo Chávez mit Vertretern der jüdischen Gemeinde ausgesprochen. Die Präsidenten von Argentinien, Brasilien und Venezuela haben zudem ein gemeinsames Dokument unterzeichnet. Darin bekunden sie ihren Willen, gegen jeglichen Antisemitismus in Lateinamerika vorzugehen.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Juli 2009


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