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Auch Pleitegeier können leer ausgehen

Dollardämmerung über Argentinien - Der erste Staatsbankrott des 21. Jahrhunderts?

Den folgenden Artikel aus dem "Freitag" vom 11. Januar 2002 dokumentieren wir gekürzt und ohne Tabellen.


Von Elmar Altvater

... Das Land am Rio de la Plata ist pleite. Die Töpfe sind leer, Menschen hungern. Argentiniens Staatsbankrott hatte sich wie in einer Erzählung von Gabriel Garcia Marqués seit langem angekündigt. Man könnte die Ursachen weit in der Geschichte aufspüren, bei den Agro-Oligarchen, die eine Industrialisierung und Modernisierung des Landes verhinderten und der Spekulation mehr Charme abgewannen als dem Engagement in der Produktion. Auch die Militärs, die von 1976 bis 1983 regierten, haben diesen Staat nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch vergewaltigt.

Es gibt nichts mehr zu privatisieren

Martinez de Hoz, der Wirtschaftsminister der Militärs, setzte voll auf die Öffnung der argentinischen Wirtschaft. Auf den Warenmärkten verdrängten die Produkte des Auslands die argentinischen mit der Folge einer Schrumpfung der Industrieproduktion um etwa 20 Prozent. Auf den Kapitalmärkten kam es bei niedrigen Löhnen und attraktiven Realzinsen zu hohem Kapitalimport, also zu einer rapide steigenden Verschuldung gegenüber dem Ausland - von etwa sieben Milliarden US-Dollar vor der Diktatur zu mehr als 50 Milliarden an ihrem Ende. Ein großer Teil der ins Land strömenden Dollars floss allerdings schnell zurück, auf die Dollarkonten argentinischer Bürger in Miami, Zürich oder London. Das sind die Hauptstädte der so genannten patria financiera, des Vaterlands der Finanzmagnaten vom Rio de la Plata.

So hinterließen die Militärs ein de-industrialisiertes, extrem hoch verschuldetes Land mit einer Inflationsrate von mehreren hundert Prozent. In dieser Situation hätten die Gläubiger Argentiniens helfen können und müssen. Doch diese Unterstützung wurde der ersten zivilen Regierung Raul Alfonsín verweigert. Erst als der neue Präsident Carlos Menem sein neoliberales Wirtschaftsprogramm zu Beginn der neunziger Jahre verkündete und Wirtschaftsminister Cavallo 1991 den Peso 1:1 an den Dollar fixierte, wurde Argentinien erneut ein "silbernes Land", interessant für Kapitalanleger aus aller Welt, ohne Währungsrisiko (wegen des festen Wechselkurses) bei hoher Realverzinsung.

Diese Rechnung konnte allerdings nicht auf Dauer funktionieren. Das Land hatte bereits große Teile seiner industriellen Basis verloren, und die Einnahmen aus Rohstoff- und Agroexporten gingen angesichts des Protektionismus der Industrieländer (vor allem der EU) und des Preisverfalls auf den globalen Rohstoffmärkten zurück. Da blieb nur die Privatisierung des Staatsvermögens. Am Ende der Amtszeit Menems 1999 war im "silbernen Land" das Tafelsilber verkauft. Als schließlich im Januar 1999 das Brasilien-Debakel hinzukam und der brasilianische Real anschließend um nahezu 50 Prozent abgewertet wurde, konnten industrielle Produkte Made in Argentina kaum noch gegen die verbilligten Angebote des Nachbarlandes konkurrieren. So stiegen die Risiken und mit ihnen die Zinsen. 30-Tage-Fremdwährungskredite an erstrangige Unternehmen kosteten 1997/98 zwischen acht und zehn Prozent. Seit dem Frühjahr 2001 gingen sie sprunghaft nach oben. Im November 2001 mussten 49,96 Prozent gezahlt werden.

Argentinien ist pleite und ratlos. Die Bindung an den Dollar kann nicht beibehalten werden, ansonsten tendiert die Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten gegen null. Eine Abwertung hingegen wird sofort die bereits hohe Außenschuld und die Last des Schuldendienstes steigern - damit auch die Belastung der argentinischen Bürger. Obendrein würde das Land von neuen Krediten abgeschnitten, wie liberale Ökonomen warnen. Doch diese Belehrung interessiert niemanden mehr. Die ultraliberale Politik der Enteignung des Volkes - Privatisierung genannt - hat das Ende der Fahnenstange erreicht. Es gibt nichts mehr zu privatisieren, an dem ein "Investor" Interesse haben könnte, und die Einkommen der Massen sind bereits so niedrig, dass auch da wenig zu holen ist. ...

Was tun? Die erste Möglichkeit: Argentinien stellt seine Zahlungen des Schuldendienstes vorübergehend ein und wertet die Währung ab. Das hat die Regierung Duhalde zu Jahresbeginn getan. Die Dollarisierung soll rückabgewickelt werden. Dollarguthaben werden zum neuen Wechselkurs von 1,35 bis 1,40 in Pesos getauscht. Doch was ist, wenn - wie zu erwarten - der Schwarzmarktkurs des Peso unter den offiziellen sinkt und auch die Besitzer von kleinen Dollarguthaben Verluste machen?

Die zweite Möglichkeit scheint der IWF zu präferieren. In den achtziger Jahren trommelte der die zehn oder fünfzehn Gläubigerbanken zusammen, um eine Umschuldung zu vereinbaren und gleichzeitig dem verschuldeten Land die berüchtigten Strukturanpassungsmaßnahmen abzuverlangen. Das aber geht heute nicht mehr, da Argentinien nicht gegenüber wenigen und leicht identifizierbaren Kreditgebern, sondern gegenüber einer großen Zahl von Wertpapierbesitzern verschuldet ist, die über Investmentfonds argentinische Staatspapiere gekauft haben. Allein im Euro-Raum haben Investmentsparer für 20 Milliarden Euro argentinische Staatspapiere erworben, die jetzt fast wertlos geworden sind. Es müssten also Tausende von Kleinanlegern beteiligt werden. Möglicherweise hat der IWF aus diesem Grund die Kredittranche an Argentinien im Dezember nicht ausgezahlt und eine Insolvenzregelung ins Spiel gebracht: Ein Land mit unsustainable debt sollte ordentlich - vergleichbar dem Konkursrecht in Nationalstaaten - pleite gehen dürfen, um später wieder auf die Beine zu kommen. Offensichtlich hat sich auch die Gläubigerseite verändert.

Es gibt noch eine dritte und vierte Lösung. Eine heißt "Exit". Zehntausende argentinischer Bürger versuchen, das Land zu verlassen. Ein Einwanderungsland des frühen 20. Jahrhunderts wird zum Auswanderungsland. Allerdings haben 70.000 Argentinier trotz Zahlung der fälligen Gebühr von 75 Dollar keinen Reisepass und können daher nicht ausreisen. Der argentinische Staat sieht sich außerstande, die einst staatliche und nun privatisierte Pass-Druckerei zu bezahlen. Das Ersatzgeld der staatlichen Gutscheine (Patacones) wird von der Druckerei nicht akzeptiert. ... So bleibt also viertens nur die "Voice"-Option: die Stimme zu erheben und auf der Straße leere Töpfe zu schlagen, in der Hoffnung, die neoliberalen Geister vom Rio de la Plata ein für alle Mal zu vertreiben.

Aus: Freitag Nr. 03, 11. Januar 2002

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