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Für neue Staatlichkeit

Soziale Kämpfe in Südamerika

Von Harald Neuber*

Der Aufruhr der indigenen Bevölkerung in den Andenstaaten Südamerikas nimmt zu. Die derzeitige Staatskrise in Bolivien unterscheidet sich dabei in ihrem Ausmaß nur unmerklich von den Rebellionen der Ureinwohner in den Anrainerstaaten Ecuador und Peru. Daß die indigenen Schichten in den sozialen Kämpfen eine führende Position einnehmen, ist wenig erstaunlich. So wie sie während der Eroberung durch die Spanier vor fünf Jahrhunderten brutal ausgebeutet wurden, so werden sie heute von den neoliberalen Regimen brutal ausgegrenzt.

Besonders deutlich wird das in Bolivien. In dem kleinen Andenstaat kongruiert die Zahl der indigenen Einwohner mit der Armutsquote – beide Zahlen liegen knapp über 70 Prozent. Auch der Verlauf der aktuellen Proteste folgt diesen sozioethnischen Gegebenheiten. Während soziale Organisationen aller Bevölkerungsgruppen für eine neue Sozialpolitik der Übergangsregierung unter Carlos Mesa protestieren, machen sich im Osten des Landes Autonomiegelüste breit. In der Region um die Stadt Santa Cruz aber konzentrieren sich nicht nur die Erdöl- und Erdgasvorkommen des Landes. Hier hat auch eine weiße Minderheit das Sagen. Die Absichten hinter den Autonomieforderungen der Oberschicht könnten durchschaubarer nicht sein. In einem Jahr stehen in Bolivien Präsidentschaftswahlen an, und der populäre Linkspolitiker Evo Morales hat gute Aussichten zum Sieg. Spätestens dann aber würden die Ressourcen des Landes mehr als bisher den Menschen statt den Eliten zugute kommen. Das soll offenbar verhindert werden.

Ähnliche Konstellationen sind in Ecuador und Peru zu beobachten. Auch in diesen Ländern fordern die verarmten Schichten gegen die Interessen reicher und meist weißer Minderheiten eine neue Sozialpolitik ein, die der von IWF und Weltbank verordneten Entstaatlichung widerspricht. Es wäre daher zu kurz gegriffen, die Konflikte allein auf ihre ethnische Dimension zu beschränken. Schließlich ist es auch das Hauptziel der »bolivarianischen Revolution« in Venezuela, die vergessenen Bewohner der Armenviertel wieder an dem Wohlstand ihres Landes teilhaben zu lassen.

Vor diesem Hintergrund ist der Diskurs internationaler Medien entlarvend. Der Bolivianer Evo Morales wird ebenso wie der venezolanische Präsident Hugo Chávez als »Linkspopulist« (Spiegel) oder »Caudillo« (Die Tageszeitung) abgetan. Die Programme der so Geächteten spielen ebensowenig eine Rolle wie die enormen sozialen Probleme der Region. Wer die neuen sozialen Bewegungen so diffamiert, um weiter an sogenannten Millenniumszielen wie der Absenkung der absoluten Armut von 36 auf 20 Prozent in Bolivien festzuhalten, der hat sein wahres Gesicht gezeigt: als Verteidiger der neoliberalen Ordnung.

* Aus: junge Welt, 26. Januar 2005


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