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Algerier sollen ein Phantom wählen

Das größte Land Afrikas zwischen Neuaufbruch und Angst vor der Wiederkehr des Terrors

Von Abida Semouri, Algier *

Die Algerier sind an diesem Donnerstag aufgerufen, über die Besetzung des höchsten Amtes abzustimmen. Sechs Kandidaten stellen sich zur Wahl, nicht alle leibhaftig.

Das Amt des Präsidenten ist in Algerien mit weit reichenden Machtbefugnissen ausgestattet, die wichtigsten Entscheidungen liegen in seiner Hand. Angesichts der Bedeutung eines solchen Votums mutet das Bild des Karikaturisten Dilem in der Algierer Tageszeitung »Liberté« dieser Tage ziemlich absurd an: Unter der Überschrift »Boutef auf dem Weg in ein viertes Mandat« zeigt es ein im Rollstuhl versunkenes Männchen, eskortiert von zwei uniformierten Motorradfahrern auf leerer Straße.

Aber das Lachen bleibt den Algeriern im Halse stecken. Die neuerliche Kandidatur des 77 Jahre alten Abdelaziz Bouteflika (»Boutef«), der seit 15 Jahren im Amt ist, hat dem größten Land Afrikas international Spott und Hohn eingebracht. Seit einem Schlaganfall im vergangenen Jahr verbringt der Staatschef mehr Zeit im Krankenhaus als im Präsidentenpalais, von Auslandsreisen ganz zu schweigen.

Zuletzt hat die Bevölkerung den ersten Mann im Staate vor wenigen Tagen bei einem Besuch des US-amerikanischen Außenministers John Kerry in Algier zu Gesicht bekommen. Das Fernsehen zeigte einen gebrechlichen Bouteflika, der mit abwesender Miene versuchte, kaum verständliche Worte herauszubringen. Den Wahlkampf haben für ihn Funktionäre der regierenden Nationalen Befreiungsfront (FLN) bestritten. Er selbst ist nicht ein einziges Mal in Erscheinung getreten. Dabei verstößt seine Kandidatur eindeutig gegen das Wahlgesetz, das vom Bewerber verlangt, körperlich und geistig auf der Höhe zu sein.

Um dies zu umgehen, wurde eilig ein ärztliches Bulletin »eingeholt«. Darin heißt es, Bouteflika denke ja nicht mit den Beinen, sondern mit dem Kopf, und dieser funktioniere tadellos »zum Wohle des Volkes«. Allerdings wissen die Algerier nur zu gut, dass jene, die den Greis im Amt halten wollen, mehr ihr eigenes denn das Wohl anderer im Sinn haben.

Diese Allianz aus politisch und finanziell einflussreichen Kräften in FLN, Armee und Geheimdiensten hat das mit Erdöl- und Erdgasvorkommen gesegnete Land seit Erlangung der Unabhängigkeit vor 52 Jahren mit Korruption und Vetternwirtschaft fest im Griff. Als die Islamisten Anfang der 90er Jahre diesem System durch ihren bevorstehenden Wahlsieg gefährlich wurden, stürzte das Land in einen Bürgerkrieg mit mindestens 200 000 Toten. Die herrschende Mafia nutzte das Chaos im Land, um sich lukrative Staatsbetriebe anzueignen und die besten Plätze an den Fleischtöpfen zu sichern.

Bouteflika wurde 1999 von den Militärs ins Amt gehoben und »befriedete« Algerien durch einen Kompromiss mit den bewaffneten Islamisten.

Durch seine sogenannte Versöhnungspolitik garantierte er ehemaligen Terroristen Straffreiheit und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Auch Generale und Offiziere, die sich in dem Konflikt Verbrechen schuldig gemacht hatten, profitierten davon.

Dank der Einnahmen aus Erdöl und Erdgas bescherte Bouteflika dem Land Großprojekte wie eine Ost-West-Autobahn, einen neuen internationalen Flughafen in Algier und versprach eine Million Wohnungen. Die Arbeiten wurden und werden allerdings von ausländischen Unternehmen umgesetzt und schufen weder ein gesundes Investitionsklima für inländische Betriebe geschweige denn ausreichend Arbeitsplätze. Regelmäßig aufflammende soziale Unruhen und Proteste gegen die Willkür des Staates werden von den Sicherheitskräften niedergehalten. Gleichzeitig leistete Bouteflika einer schleichenden Islamisierung im Lande Vorschub. Persönliche Freiheiten, vor allem für Frauen, wurden immer mehr beschnitten. Der Ausschank und Verkauf von Alkohol wurde staatlich reglementiert und eingeschränkt. In Algier soll die größte Moschee der Welt als eine Art persönliches Vermächtnis Bouteflikas entstehen. Zugleich bleiben Investitionen in das marode Gesundheitswesen und Bildungssystem aus.

Im Wahlkampf haben weder Bouteflika noch die anderen fünf Kandidaten den Algeriern glaubhafte Lösungswege präsentiert. Die Islamisten haben gar keinen Bewerber ins Rennen geschickt. Die meisten der Kandidaten werden keine nennenswerte Stimmenzahl zusammenbringen können. Lediglich Ali Benflis – ehemaliger Generalsekretär der FLN und Regierungschef von 2000 bis 2003 – kann sich auf einen Teil des Machtapparates stützen. Hoffnungsträger der Bevölkerung auf eine radikale Änderung der Machtstrukturen ist auch er nicht.

Ohnehin gehen alle davon aus, dass Bouteflika schon so gut wie »gewählt » ist. Benflis und weitere zwei Mitbewerber haben allerdings angekündigt, Wahlfälschungen diesmal nicht durchgehen zu lassen. Am Ergebnis wird aber auch das nichts ändern. Die Algerier beunruhigt vielmehr, dass sich die Drahtzieher des Apparates in den Hinterzimmern der Macht nicht auf einen anderen Kandidaten als Bouteflika einigen konnten. Es gilt als Zeichen dafür, dass das Interessengleichgewicht der Fraktionen gehörig aus den Fugen geraten und das System an seine Grenzen gestoßen ist. Ein junger Offizier veröffentlichte im Internet eine aus Einschüssen zusammengesetzte Vier, die die vierte Amtszeit Bouteflikas symbolisieren soll. Politiker wie der ehemalige Staatspräsident Liamine Zeroual und Ex-Premierminister Mouloud Hamrouche haben angesichts dieser Situation an die patriotischen Kräfte in der Armee appelliert, wieder einen Konsens herzustellen. Zwar gehören auch diese beiden Männer zum System, gelten aber als Reformer und sind zumindest an der Stabilität des Landes interessiert.

Der Kommentator der Zeitung »El Watan« stellte dieser Tage fest: »Noch nie war eine Wahl von so viel Angst in der Bevölkerung überschattet.« Ali Bahmane sagt für die Zeit nach der Abstimmung einen Rachefeldzug des Bouteflika-Lagers voraus, das seinen ganzen Einfluss auf das bürokratische, mediale und juristische System mobilisieren werde, um seine Widersacher zu vernichten. »Noch nie zuvor war ein Stoßgebet so in aller Munde: Möge Gott uns beschützen!«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 17. April 2014


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