Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wind, der in alle Richtungen weht

Boualem Sansal erhielt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Von Irmtraud Gutschke *

Gütige Augen, aufmerksam der Blick, weiche Züge, die langen grauen Haare zu einem Zopf gewunden - Boualem Sansal, französisch schreibender Schriftsteller aus Algerien, feierte am Samstag seinen 62. Geburtstag fern der Heimat, weil er am Sonntag in Frankfurt am Main den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels überreicht bekam. Sechs Romane sind von ihm bislang in dem kleinen Merlin Verlag aus Gifkendorf erschienen; jetzt rücken sie ins Licht. Es ist nicht das erste Mal, dass eine literarische Ehrung für Verwunderung sorgt: Wer ist das?

Eine Frage für ihn auch an die eigne Person. »Da, wo ich jetzt stehe, vor ihnen, an diesem Pult, bin ich zwar ich selbst, aber auch ein anderer, den ich nicht kannte und noch immer nicht kenne, nämlich der, den Sie zum Friedenspreisträger des Jahres 2011 erkoren haben ... Der Friedenspreis ist wie der Finger Gottes oder wie ein Zauberstab; sobald er unsere Stirn berührt, verwandelt er uns in Soldaten des Friedens.« Wie sich sein Leben gestalten wird, wenn er in die Heimat zurück kommt, natürlich beschäftigt ihn das. Was kann er denn tun für den Frieden dort - ein Mensch »von eher schüchternem Naturell« und »ausgerechnet ich, der ich seit jeher im Krieg lebe, in meinen Büchern nichts anderes behandle als den Krieg«. Denn es habe für sein Land im Lauf der Jahrhunderte nie die Wahl zwischen Krieg und Frieden, sondern nur zwischen Krieg und Krieg gegeben. Im antikolonialen Befreiungskrieg seien wie in einer Matrjoschka-Puppe folgende Kriege enthalten gewesen. Wenn es vor einiger Zeit in Algerien auch zu einer Beruhigung kam, so sei das kein Frieden, sondern nur »ein Grabesruhe, jene fade Suppe, die aufs Vergessen vorbereitet und auf einen banalen Tod«.

Ein Sehnsüchtiger. Ein Grübler. Seine Vorfahren: Berber. In einem Bergdorf geboren, in einem Arbeiterviertel von Algier aufgewachsen, allein mit der Mutter, der Vater starb früh. Studierte, promovierte, brachte es bis zum Generaldirektor im Ministerium für Industrie und Umstrukturierung - und wurde zuerst beurlaubt, dann entlassen, nachdem er begonnen hatte, in Romanen und Essays die politische Situation in seinem Land zu kritisieren. Seine Bücher erscheinen in Frankreich, in Algerien sind sie verboten. Er wurde nirgendwo mehr angestellt, auch die Ehefrau verlor ihre Arbeit. Obwohl er weitere Repressionen, gar Mordanschläge fürchten muss, ist er nicht ins Exil gegangen, wie es die meisten Schriftsteller getan haben. Ein Standhafter. Ein Träumer? Ein Wissender?

Dass er »den Tiefengründen der fatalen Entwicklung« in Algerien nachgeht, würdigte der Vorsteher des Börsenvereins Gottfried Honnefelder in seinem Grußwort. Boualem Sansal erinnere an die in seinem Land verschwiegene Schoah der Juden, wehre sich gegen den Missbrauch des Islam und gegen einen Arabismus, der die Vielfalt der Sprachen und Kulturen unterdrückt. Er »verschweigt nicht die Spätwirkungen des deutschen Nationalsozialismus in Algerien und kritisiert die Doppelmoral des Westens angesichts der Erhebungen in Nordafrika, von denen er fürchtet, dass sie erneut ihr Ziel verfehlen«.

Dass Literatur eine »langsame Gewalt« sei, sagte Peter von Matt in seiner Laudatio und würzte das mit einem Kleist-Zitat. Boualem Sansal: »ein unbändiger Erzähler, ein Satiriker von Rang, witzig und weise ? affiziert alle fünf Sinne - es stinkt, es schrillt, es blendet, es brennt auf der Haut und es glibbert auf der Zunge.« Ein »großartiger Autor« - und doch: eine politisch motivierte Preisverleihung. Keiner der Anwesenden in der Paulskirche zweifelte wohl daran. Der Börsenverein hatte ja auch verlautbart, dass man ein »Zeichen setzen« wolle »für die Demokratiebewegung in Nordafrika«. Was Boualem Sansal selbst auch so verstand. Offiziell würde es in seinem Land wahrscheinlich keine Nachricht über die Preisverleihung geben (bezeichnenderweise blieb der Platz des algerischen Botschafters in der Paulskirche leer), doch würde es sich schnell herumsprechen: »Der Westen denkt an uns, unterstützt uns.« Wie er das zur Pressekonferenz am Freitag sagte, klang es so, als ob seine ganze Hoffnung sich an diesen »Westen« richtete, dessen wirtschaftlichen und politischen Beistand er beschwor.

Aber kann man Demokratie exportieren? Ja, geht es überhaupt darum? Strebt der von Boualem Sansal so angeflehte »Westen« nicht vor allem nach den Erdölquellen? Unruhe zu schüren oder zu dämpfen, das geschieht doch nicht ohne Zweck. Wer aus Algier nach Frankfurt am Main kommt, mag das Gefühl haben, an einem Ort der Gerechtigkeit und des Fortschritts angelangt zu sein. Boualem Sansal dürfte zugetraut werden, dass er das Brüchige auch hier erkennt. Massenproteste in Europa, in den USA - die Kluft zwischen Arm und Reich ist in den hochentwickelten Industrieländern nicht so augenscheinlich wie in Nordafrika, wo gerade junge Leute für sich kaum mehr Chancen sehen, aber im Grundsatz geht es hier wie dort um Verteilungsgerechtigkeit, um den Anteil am gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum, der dem Einzelnen zusteht.

Der in »Tunis angebrochene Frühling« würde auch in Tel Aviv, in Gaza, in Ramallah eintreffen, sagte Boualem Sansal in seiner Friedenspreisrede, würde »Palästinenser und Israelis im Zeichen der gleichen Wut vereinen«. So würden sie Kraft finden, sich von denjenigen zu befreien, die sich als Paten, Tutoren und Berater aufspielen, um ihnen ihre eigenen »Hirngespinste aufzuladen«. »Schalom, Salam« als feierliche Verkündung in zwei Staaten - er hofft darauf.

Wunsch nach einer Zukunft, die »ganz einfach menschlich« ist. »Und es beschränkt sich nicht auf die arabischen Länder, es kommt ein weltweite Veränderung auf, eine kopernikanische Revolution ? Alles, was dem Leben Gewalt antut, es verarmen lässt, ist dem Gewissen der Welt unerträglich geworden und wird mit aller Macht abgelehnt.« Das sei »ein Wind, der in alle Richtungen weht«, bis nach China würde er kommen »und selbst noch weiter«.

Gebot es die Vorsicht, dass Boualem Sansal nicht auch von Europa sprach?

* Aus: neues deutschland, 17. Oktober 2011


Zurück zur Algerien-Seite

Zur Seite "Friedenspreise"

Zurück zur Homepage