Junge Algerier planen keinen Aufstand
Dem Land scheint wegen der Traumatisierung durch den Bürgerkrieg kein arabischer Frühling bevorzustehen
Von Martin Lejeune, Algier *
Algerien, das größte Land Afrikas, ist
nicht nur extrem reich an Bodenschätzen.
Ein Großteil der Bevölkerung
ist noch sehr jung. Trotz der ungerechten
Verteilung von Armut und
Reichtum ist in dem Land aber keine
Revolte zu erwarten.
Mohammed Mokhtari repariert
Autos, dabei hat er Pädagogik studiert.
Sein Lebensweg ist typisch in
Algerien. Der 25-Jährige absolvierte
ein Studium an der Ibn-
Khaldun-Universität in Tiaret.
Doch nun lebt er in dem Dorf Aïn
Bouchakif in der Nähe von Sougueur
im Wilayat Tiaret, 350 Kilometer
westlich von Algier. An diesem
Wochenende sitzt er zu Hause
mit seinen beiden Freunden, von
denen einer Architektur und ein
anderer Maschinenbau studiert
hat. Allen drei ist gemein, dass sie
nicht in den Berufen arbeiten, für
die sie ausgebildet wurden. Der
Pädagoge Mohammed repariert
Autos, der Architekt hilft im Laden
seines Onkels aus und der Maschinenbauer
fährt Taxi.
Die drei Freunde stehen exemplarisch
für das Dilemma Algeriens.
Das Bildungssystem ist im
Vergleich zu anderen afrikanischen
und arabischen Ländern gut
und kostenlos von der ersten Klasse
bis zum Universitätsdiplom.
Studenten bekommen sogar freie
Kost und Logis. Dies ist ein großer
Anreiz für Jugendliche aus dem
ländlichen Raum, in eine Großstadt
zu ziehen, um dort an der
Universität zu studieren. Allein an
Stellen für die Absolventen mangelt
es. Die Bevölkerung Algeriens
besteht zu 75 Prozent aus Menschen
unter 30 Jahren. Der Arbeitsmarkt
für Akademiker kann
nicht annähernd ein Viertel aller
Studienabgänger aufnehmen.
Mohammeds Vater arbeitet in
der Grundschule von Aïn Bouchakif
als Lehrer. Mit seinen 350 Euro
Monatsgehalt bringt er die Familie
durch. Was Mohammed mit seiner
Autowerkstatt umsetzt ist nur ein
unregelmäßiger Zuverdienst. Zusammen
reicht es gerade so zum
Leben. Dennoch beschwert sich
niemand in der Familie. »Wir haben
alles, was wir brauchen. Wir
sind zufrieden«, sagt Mohammed,
der noch nie in seinem Leben in
Algier war. Man ist seit jeher genügsam
in dieser kargen und im
November bitterkalten Region.
In der Hochhaussiedlung La
Vigerie in der Trabantenstadt Mohammadia,
20 Kilometer östlich
von Algier, reiht sich ein grauer
Plattenbau an den anderen. In einer
kleinen und dunklen Zweizimmer-
Wohnung in Les Dûnes, so
heißen die Riesenhochhäuser in La
Vigerie, die in den 80er Jahren die
größten Gebäude Afrikas waren,
leben die vier Arbeiter Hamza,
Khaled, Reda und Elias. Alle vier
kommen aus der Kabylei, eine der
ärmsten Regionen Algeriens an der
Küste, und arbeiten in der Hauptstadt.
»In der Kabylei gibt es nicht
genug Arbeit für die Männer«, sagt
Reda. »Deshalb müssen wir in der
Woche in der Hauptstadt wohnen.
« Weil die Mieten im Zentrum
Algiers für Arbeiter unerschwinglich
sind, teilen sie sich zu viert die
Wohnung am Stadtrand. Die
»weiße Stadt« Algier mit ihren
vielen Gärten bekommen die vier
nie zu Gesicht.
Elias zum Beispiel braucht zu
seinem Arbeitsplatz im Industriegebiet
zwei Stunden im Berufsverkehr.
Khaled ist Hafenarbeiter und
fährt eineinhalb Stunden. Donnerstagabend
fahren sie zu ihren
Familien in die Kabylei. Sie verdienen
im Durchschnitt 250 Euro
pro Monat. »Das reicht nicht, um
anständig zu leben, vor allem nicht
in Algier«, klagt Reda. Ihre Freizeit
in der Woche besteht nur aus
Fernsehen, Essen und Schlafen.
Einen Aufstand haben sie trotz
dieser Eintönigkeit nicht im Sinn.
»Wir sind froh, dass es in Algerien
derzeit ruhig und stabil ist«, sagt
Khaled. »Wir haben noch immer
den Bürgerkrieg infolge des Aufstands
von 1988 in schlechter Erinnerung.«
Die bekannte algerische
Schriftstellerin Inam Bioud, die
häufig in den Medien nach ihrer
Meinung zur politischen Lage gefragt
wird und auch schon auf dem
Literaturfestival der Berliner Festspiele
gelesen hat, versteht die
Einstellung der Arbeiter: »Der Unabhängigkeitskrieg
kostete zwei
Millionen Algerier das Leben und
der Bürgerkrieg forderte noch einmal
Hunderttausende Tote. Diese
Erfahrung steckt den Algeriern
noch tief in den Knochen. Solange
es wirtschaftlich nicht ganz
schlimm kommt, sind keine Aufstände
wie in Tunesien oder Ägypten
zu befürchten.«
Inam Bioud leugnet nicht die
sozialen und infrastrukturellen
Probleme. Im algerischen Radio
klagt sie die ausufernde Korruption
an und fordert mehr Transparenz.
»Es ist ein Verbrechen, in welchen
dunklen Kanälen die Milliarden
Euro aus den Öl- und Gasverkäufen
landen und wie wenig die Bevölkerung
davon sieht«, sagt Bioud.
»Doch das Volk ist zu sehr von
Bürgerkrieg und Terrorismus der
Vergangenheit traumatisiert, um
erneut gegen das korrupte und klientelistische
System auf die Straße
zu gehen.«
* Aus: neues deutschland, 16. November 2011
Zurück zur Algerien-Seite
Zurück zur Homepage