Paris und Algier für neues Kapitel
Frankreich will Beziehungen zu Algerien »versachlichen«
Von Ralf Klingsieck, Paris *
Der offizielle Besuch von Präsident
François Hollande in Algerien am
Mittwoch und Donnerstag ist politisch
brisant und wird auf beiden Seiten
des Mittelmeers aufmerksam verfolgt.
Das Ende des Kolonialkrieges, das
Abkommen von Evian und die Unabhängigkeitserklärung
Algeriens liegen genau ein halbes Jahrhundert
zurück – doch nichts ist vergessen
und die Wunden sind längst
noch nicht verheilt. Um darauf
Rücksicht zu nehmen und möglichst
wenig Menschen in Algerien
wie in Frankreich zu verprellen,
muss Präsident Hollande jetzt einen
diplomatischen Hochseilakt
vollführen und jedes seiner Worte
abwägen. Und er hat Glück, dass
sein algerischer Kollege Abdelaziz
Bouteflika ebenso daran interessiert
ist, die blutgetränkten Seiten
im Geschichtsbuch umzublättern.
Beide wollen die Beziehungen
von Grund auf neu gestalten und
vor allem »versachlichen«. Das
kommt in dem Absichtspapier zum
Ausdruck, das die Präsidenten unterzeichnen
werden und das »Sockel
« und »Fahrplan« für die Neuausrichtung
der Beziehungen bilden
soll. Die einzelnen politischen
und wirtschaftlichen Dossiers sollen
in den nächsten Jahren in regelmäßigen
Verhandlungen erörtert
und zu einem einvernehmlichen
Abschluss gebracht werden.
Es ist eine bemerkenswerte
Geste, dass der französische
Staatschef Gelegenheit haben
wird, vor den Abgeordneten beider
Kammern des algerischen Parlaments
zu sprechen. Dabei will er
auf die gemeinsame Vergangenheit
beider Länder und Völker eingehen
und – wie vor ihm schon
Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy
– das Unrecht der 130 Jahre
währenden Kolonialherrschaft
betonen, die mit einem grausamen
Krieg, vielen Opfern und Leid auf
beiden Seiten endete. In seiner
Rede wird es aber weder Reuebekundungen
noch Entschuldigungen
geben, wie dies von verschiedenen
Kräften Algeriens gefordert
wird. Dafür gibt es in Frankreich
keinen Konsens, weil hier nicht
zuletzt mit Rücksicht auf die »Pieds
noirs«, die aus Algerien vertriebenen
Siedler, und die Harkis, die algerischen
Kriegsfreiwilligen der
Kolonialarmee, die grausame
Kriegführung und die Opfer beider
Seiten gegeneinander aufgerechnet
werden.
Für Vorteil von Hollande ist,
dass er schon aufgrund seines Alters
nicht persönlich mit dem Algerienkrieg
in Beziehung gebracht
wird wie beispielsweise der sozialistische
Expräsident François
Mitterrand, der seinerzeit Innenund
Justizminister war und die
Begnadigung zum Tode verurteilter
FLN-Kämpfer abgelehnt hatte.
Vor allem wurde es Hollande in
Algerien hoch angerechnet, dass er
kürzlich im Gegensatz zu seinen
Amtsvorgängern die Schuld des
Staates am Massaker an den algerischen
Demonstranten vom 17
Oktober 1961 in Paris offiziell eingeräumt
hat.
Jetzt wollen Hollande und Bouteflika,
der seinerzeit mit 17 Jahren
in den Befreiungskampf eintrat,
ihren Willen bekunden, nach
vorn zu schauen und gemeinsam
die Zukunft zu gestalten. Beide
Staaten haben dabei eigene Interessen,
die es aufeinander abzustimmen
gilt. Frankreich ist vor
allem am algerischen Markt, an
Investitionsmöglichkeiten und an
der langfristigen Sicherung der Ölund
Gaslieferungen interessiert.
Beispielsweise erhofft sich Renault
einen Schub für die festgefahrenen
Verhandlungen über den Bau eines
Autowerks in Oran. Außerdem
geht es Paris um eine engere außenpolitische
Zusammenarbeit im
Mittelmeerraum und bei der Terrorbekämpfung
in der Sahara und
im Norden Malis.
In Algerien wünscht man sich
vor allem eine Lockerung der Einreisebestimmungen
nach Frankreich,
denn viele junge Algerier
wollen hier studieren oder einige
Jahre arbeiten. Selbst 50 Jahre
nach der Unabhängigkeitserklärung
und allen Arabisierungskampagnen
zum Trotz ist die
französische Sprache in Algerien
sehr stark präsent, doch der Kulturaustausch
leidet an einer engen
Reglementierung durch die algerische
Regierung. Auch hier erhofft
man sich von dem Besuch eine Lockerung.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 19. Dezember 2012
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