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Algerien nach dem 11. September: Und wo bleiben die Menschenrechte?

Eine Erklärung europäischer Intellektueller

"Den Diktaturen in der Welt ging es noch nie so gut wie nach dem 11. September." Diesen Satz sagte der tunesische Oppositionelle Moncef Marzouki, als er am 8. Dezember 2001, nach Jahren der Verfolgung ins Pariser Exil ging. Er erinnerte an die Komplimente des französischen Präsidenten an die Adresse seines tunesischen Amtskollegen Ben Ali bei seiner Blitzreise in die drei Maghrebstaaten und fuhr fort: "Es ist an der Zeit, dass Chirac und alle westlichen Verantwortlichen verstehen, dass das, was sie am meisten befürchten - die Emigration und den Terrorismus - eine direkte Konsequenz von Diktatur und Korruption ist."

Marzouki spricht aus Erfahrung, der Erfahrung seines Landes. Aber seine Aussagen betreffen offensichtlich auch andere Länder. Und wie sollten seine Worte nicht Erwähnung finden, da die Europäische Union, am 19. Dezember, einen "Assoziationsvertrag" mit Algerien zu unterzeichnen beabsichtigt? Tunesien unterzeichnete am 12. April 1995 in Brüssel als erster Maghrebstaat ein derartiges wirtschaftliches und politisches Abkommen. Dieses Abkommen ist für General Zine El Abidine Ben Ali der wichtigste Passierschein, der ihm ermöglicht hat, in völliger Straflosigkeit sein Land in eine "so sanfte Diktatur" (so der Journalist Toufik Ben Brik) zu verwandeln.

Als Bürger der Mittelmeerregion können wir uns auch weiterhin mit dieser Komplizenschaft nicht abfinden. Und wir verurteilen, dass mit einem solchen Abkommen heute den algerischen Generälen einen Freischein geboten werden soll, den gleichen Generälen, die Algerien seit zehn Jahren in einen endlosen Strudel von Gewalt und Schrecken gestürzt haben, um weiterhin jedes Jahr verdeckte Einnahmen in Millionenhöhe aus dem Import- und Exportgeschäft in die eigenen Taschen fließen zu lassen.

Diese Tatsache hatte natürlich keinerlei Einfluss auf die "Agenda" der Verhandlungspartner in Brüssel. Im Laufe der jahrelangen Vorbereitungsgespräche mit dem algerischen Partner haben sie sich immer daran gehalten, "so zu tun, als ob...." - als ob die einander ablösenden Regierungen, die seit 1992 mittels Staatsstreich und Wahlfälschungen installiert wurden, die algerische Demokratie tatsächlich repräsentierten; als ob der Kampf gegen die bewaffneten islamistischen Gruppen, abgesehen von wenigen "Übergriffen", mit rechtsstaatlichen Mitteln geführt werde; als ob die algerische Wirtschaft eine "normale" Ökonomie sei, die durch dieses Assoziationsabkommen in den Welthandel integriert und dadurch angekurbelt werden könne. Aber es steht außer Zweifel, dass die Brüsseler Technokraten sowie die Regierungen der Union, in deren Namen sie verhandeln, genau wissen, womit sie es zu tun haben. Sie wissen, dass ihre "offiziellen" Gesprächspartner nur die Statisten eines "potemkinschen Algerien" sind, das von den Generälen des "schwarzen Kabinetts" zu Präsentationszwecken aufgebaut wurde. Sie wissen, dass der nach wie vor bestehende Ausnahmezustand der Gängelung und Knebelung der Gesellschaft mittels repressiver Dekrete dient, während sich andererseits die Regierung als unfähig erweist, auf eine katastrophale Überschwemmung zu reagieren. Sie wissen, dass die seit 10 Jahren andauernde Gewalt - über 200 000 Tote, über 10 000 Verschwundene, Millionen von Verletzten, Waisen und Flüchtlingen innerhalb des Landes und über 500 000 Flüchtlinge außerhalb des Landes - gleichermaßen auf die Übergriffe der bewaffneten islamistischen Gruppen wie auch auf den vom militärischen Geheimdienst und den "Spezialkräften" der Armee geführten "schmutzigen Krieg" zurückzuführen ist. Und sie wissen, dass die systematisch angewandte Folter und die Erschießung von Demonstranten, wie wir noch 2001 in der Kabylei erleben mussten, gängige Mittel zur "Aufrechterhaltung der Ordnung" sind. Sie wissen, dass seit drei Jahren Monat für Monat stattfindenden Dutzende von Ermordungen hauptsächlich von "Todesschwadronen" und bewaffneten Banden verübt werden, die von den "Entscheidern" kontrolliert und manipuliert werden. Sie wissen, dass dank der von Präsident Bouteflika ausgerufenen "zivilen Eintracht" Tausende von "reumütigen" Verbrechern, die dem Maquis abgeschworen haben, nicht vor Gericht gestellt wurden und viele von ihnen in die "Sicherheitskräfte", denen übrigens nicht wenige angehört hatten (Doppelagenten, Islamisten der Armee), (re-)integriert wurden.

Sie wissen schließlich, dass die algerische Wirtschaft in unvorstellbarem Maße zerstört ist: Über die Hälfte der jungen Leute sind arbeitslos, Familien drängen sich in Slums oder Notbehausungen (wo man nur abwechselnd schlafen kann), Wasser aus der Leitung ist für die meisten nur noch ein paar Stunden in der Woche verfügbar. Ein Großteil der Lebensmittel wird importiert. Die für den lokalen Markt produzierenden Industrien sind zerfallen. Und die "Privatisierung" der staatlichen Betriebe ist eine verhängnisvolle Farce. Die die gesamte Gesellschaft durchziehende Korruption ist der letzte Kitt einer informellen Wirtschaft, die der Mehrheit kaum noch das Überleben und einer Minderheit eine maßlose und skandalöse Bereicherung ermöglicht.

Nichtsdestoweniger verhandelt Brüssel in der Absicht, sich mit dem Algerien der Generäle "zu assoziieren". Zwei zynische und brutale Gründe gibt es dafür. Ein "strategischer" Grund: Dieses Land ist für einige Staaten der Europäischen Union einer der größten Erdöl- und Erdgaslieferanten (dies ist der einzige funktionierende Wirtschaftssektor; er bringt 97 % der Exporteinnahmen ein und ist die sprudelnde Quelle der "Kommissionen", durch die die "Entscheider" sich schamlos bereichern, und zweifellos auch der "Rück-Kommissionen", die manche ihrer Verpflichteten in Europa seit Jahren erhalten.). Und ein ideologischer Grund: Angesichts der "islamistischen Gefahr" ist es allemal besser, die offenkundig korrupten und blutrünstigen Militärs zu unterstützen (der "Nixon-Doktrin" folgend: "Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn", wir Nixon in bezug auf den nicaraguanischen Diktator Somoza sagte).

Seit zehn Jahren verstehen sich die Rentiergeneräle perfekt darauf, sich diesen Zynismus zunutze zu machen, um in ihrem Krieg gegen das algerische Volk die politische und ökonomische Unterstützung zu erhalten, die sie von der internationalen Gemeinschaft, der Europäischen Union und insbesondere Frankreichs erwarteten, das in dieser Frage weltweit den Ton angibt (es scheint, dass Algerien auch vierzig Jahre nach seiner Unabhängigkeit in den Augen der westlichen demokratischen Staaten eine "innere Angelegenheit" Frankreichs geblieben ist). Und nach den tragischen Ereignissen vom 11. September setzen sie verstärkt auf ihren Vorteil, wie Generalmajor Mohamed Touati, Präsidentenberater und oft als "Hirn" des "schwarzen Kabinetts" bezeichnet, ohne Umschweife erklärt: "Was ich mir unter diesen Umständen wünsche, ist, dass Algerien endlich die internationale Meinung eines Besseren belehren kann, die von 'Quellen', die mit dem internationalen Terrorismus und dem im Land wütenden Terrorismus in Verbindung stehen, über die wirklichen Geschehnisse im Land getäuscht wurde." (El Watan, 27. September 2001) Diese Aussage wird von einem weiteren "hohen Verantwortlichen" bestärkt: "Der internationale Kontext wendet sich zu unseren Gunsten, unsere Forderungen, insbesondere bezüglich des Anti-Terror-Kampfes, werden heute angenommen und verstanden." (Le Quotidien d'Oran, 9. Dezember 2001)

Die Unterzeichnung des Assoziationsvertrages zwischen der Europäischen Union und Algerien geschieht in diesem Kontext. Es ist unseres Erachtens bezeichnend, dass dieser Vertrag "die Stärkung der Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte" außen vor lässt (obwohl diese Klausel als eine der wesentlichen Verpflichtungen der "Barcelona-Deklaration" gilt, die während der euro-mediterranen Konferenz im November 1995 sowohl von Algerien als auch von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union unterzeichnet wurde). Wir lehnen es ab, dass das Abkommen im Namen der Terrorismusbekämpfung die Verletzung der Grundrechte seitens der unterzeichnenden Staaten deckt, wie die kürzlich vorgenommenen unrechtmäßigen Abschiebungen in Europa lebender algerischer Bürger befürchten lassen.

Als Bürger der Staaten der Mittelmeerregion und der EU teilen wir die gleiche Überzeugung: Der gerechtfertigte Kampf gegen die Verantwortlichen der Anschläge am 11. September darf auf keinen Fall die Unterstützung der Autokraten bedeuten, die sie produzieren. Wir wissen, dass dieses Abkommen vom 19. Dezember nicht vor der Ratifizierung des Europaparlaments und der Parlamente der betroffenen Staaten in Kraft treten kann. Vom derzeitigen algerischen Parlament, das aus einer Wahlfälschung hervorgegangen ist, erwarten wir nichts. Dennoch bitten wir die Europaabgeordneten nachdrücklich, dieses Wirtschaftsabkommen nur zu ratifizieren, wenn die Einhaltung der "Deklaration von Barcelona" garantiert ist, und sich unverzüglich für die Erfüllung der elementaren Forderungen seitens der algerischen Regierung einzusetzen: Aufhebung den Ausnahmezustand und Wiedereinführung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit; Entsendung von Sonderberichterstattern der UNO für Folter und "Verschwindenlassen" ins Land und einer unabhängigen internationale Untersuchungskommission vor Ort zur Ermittlung der Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen gleich welcher Seite; und schließlich die Einrichtung eines internationalen ad hoc Strafgerichts, das die Verantwortlichen verurteilt, ob es sich um islamistische Terroristen oder um Akteure des Staatsterrorismus handelt.

Erstunterzeichner

Algérien:
Omar Benderra, Berater; Sofiane Chouiter, Rechtsanwalt; Ghazi Hidouci, Ökonom; Mahmoud Khelili, Rechtsanwalt; Salah-Eddine Sidhoum, Chirurg; Brahim Taouti, Rechtsanwalt; Tassadit Yacine, Anthropologin
Belgien:
Jeanne Kervyn, Sociologin
Espagne:
Gema Martín Muńoz, Sociologin
Deutschland:
Salima Mellah, Journalistin, Werner Ruf, Politologe; Peter Strutynski (Politologe)
Frankreich:
Patrick Baudouin, Rechtsanwalt, Ehrenpräsident der FIDH; François Burgat, Politologe; Hélčne Flautre, Europaabgeordnete; François Gčze, Verleger; Gustave Massiah, Ökonom; Véronique Nahoum-Grappe, Anthropologin; Bernard Ravenel, Lehrer; Pierre Vidal-Naquet, Historiker; Gilbert Wasserman, Zeitschrift Mouvements
Großbritannien:
William Byrd, Ökonom
Italien:
Anna Bozzo, Historikerin; Ferdinando Imposimato, Rechtsanwalt
Schweiz:
Marie-Claire Caloz-Tschopp, enseignante et chercheur

(Und weitere 50 Personen; Vollständige Unterschriftenliste : www.algeria-watch.org.)


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