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"Bouteflika hat algerischen Staat zerstört"

Der Präsident ist unangekündigt aus Frankreich zurückgekehrt – ob tatsächlich er regiert, ist offen


Nach wochenlanger Behandlung in einer französischen Klinik ist Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika am Dienstag in seine Heimat zurückgekehrt. Im Rollstuhl sei der 76-jährige Staatschef in ein algerisches Regierungsflugzeug gebracht worden, hieß es aus Flughafenkreisen. Bouteflika war nach einem Schlaganfall Ende April zur Behandlung nach Paris gebracht worden und befand sich seitdem in der Privatklinik Val-de-Marne. Sein Gesundheitszustand wurde streng geheim gehalten. Als der algerische Journalist Hichem Aboud Ende Mai darüber berichtete, wurde ihm verboten, das algerische Staatsgebiet zu verlassen. Mit ihm sprach Anna Fischer.


Herr Aboud, Präsident Bouteflika ist wieder in Algerien. Wie erklären Sie die plötzliche Rückkehr angesichts seines kritischen Zustands?

Lange war seine Rückkehr angekündigt worden. Schließlich ist sie sehr plötzlich erfolgt und ohne Ankündigung. Noch nicht einmal der Premierminister wusste davon.

In welchem Zustand befindet sich der Präsident?

Ein Video des Fernsehsenders ENTV zeigt, wie Bouteflika nach seiner Ankunft von mehreren Ministern empfangen wird. Er sitzt in einem Rollstuhl. Man sieht, dass er seinen linken Arm nicht bewegen kann. In einer Meldung der Nachrichtenagentur APS heißt es, er müsse sich weiterhin ausruhen.

Wie wirkt sich das auf die Regierbarkeit des Landes aus?

Da der Präsident geschwächt ist, regiert sein Bruder Said Bouteflika an seiner Stelle. Er wurde bereits zu Beginn seiner Amtszeit 1999 zu seinem Berater ernannt.

Am 19. Mai hatten Sie im französischen Fernsehsender France 24 erklärt, Bouteflika liege im Koma. Woher hatten Sie die Informationen?

Ich bin Journalist, ich habe meine Quellen.

Nach Ihrer Rückkehr nach Algerien wollten Sie Ende Juni zu einer Konferenz nach Tunesien reisen. Daraufhin wurden Sie am Flughafen festgehalten. Was ist seitdem passiert?

Ich wurde zu einem Richter gebracht, der eine Anklageschrift verlas. Darin wurde ich vom Staatsanwalt beschuldigt, die Sicherheit des Staates zu gefährden. Seitdem läuft ein Verfahren gegen mich, das vom Bruder des Präsidenten angestrengt wurde.

Wie kommt es, dass Sie noch nicht festgenommen wurden?

(Lacht) Es ist absurd zu behaupten, die Sicherheit des algerischen Staates werde durch so eine Aussage gefährdet. Aber man hat für meine Zeitungen die Finanzierung durch Werbung gesperrt, die von einer staatlichen Behörde kontrolliert wird. Der Clan von Bouteflika will mich in den Bankrott treiben, aber das schafft er nicht. Meine Zeitung »Mon Journal« und deren arabische Ausgabe »Djaridati« erscheinen weiterhin täglich in einer Auflage von 50 000.

Ich habe gelesen, dass Sie für den algerischen Geheimdienst gearbeitet haben. Ist das richtig?

Ja, aber 1992 bin ich offiziell ausgeschieden. Ich habe dann eine Zeitung im Osten gegründet, deren Redaktion aber von der lokalen Mafia zerstört wurde. Später habe ich für die Zeitung »Quotidien de Paris« von Algier aus gearbeitet. Als man mir meine Akkreditierung nahm, machte ich ohne Erlaubnis weiter. Schließlich musste ich nach Frankreich ins Exil gehen, weil man mich deswegen zu einem Jahr Gefängnis verurteilt hatte. Nach 15 Jahren Exil bin ich 2011 nach Algerien zurückgekehrt, um für die Opposition zu arbeiten.

Gibt es denn eine Opposition in Algerien?

Nein.

Was ist mit den Parteien RCD (Vereinigung für eine Demokratische Verfassung) und FFS (Front der Sozialistischen Kräfte), die in der Kabylei viele Anhänger haben?

Die RCD ist von der Regierung mit fünf Millionen Euro bestochen worden. Sie hat ihre Glaubwürdigkeit verloren, als sie der Verfassungsänderung zugunsten einer dritten Amtszeit für Bouteflika zugestimmt hat. Der ehemalige FFS-Präsident Hocine Aid Ahmed hat von der Regierung ein Grundstück erhalten, damit er schweigt.

Wer regiert Algerien?

Der Clan Bouteflika. Er kann sich an der Macht halten, indem er der Bevölkerung Angst macht. Ihm gehören jetzt neue Generäle an. Der einzige von der alten Garde ist General Mohamed Toufik, Chef des Geheimdienstes. Er riskiert keinen Konflikt mit Bouteflika Nach den Wahlen wird er mit dem Clan zusammenarbeiten, der als Sieger hervorgeht.

Wie sieht für Sie die Bilanz der 14 Jahre von Bouteflikas Präsidentschaft aus?

Bouteflika hat den algerischen Staat zerstört. Es gibt keine Parteien und keine Institutionen mehr. Bis 2014 soll er noch bleiben. Aber was Ihre Frage nach einer Opposition betrifft: Vielleicht gelingt es ja, dass sich ein Kandidat zur Wahl stellt, der wirklich die Zivilbevölkerung repräsentiert.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 20. Juli 2013


Kläger gegen Folter und Algerienkrieg

Henri Alleg ist im Alter von 91 Jahren verstorben

Von Ralf Klingsieck, Paris **


Der Autor des Buches »La Question«, das zu einem Fanal gegen Frankreichs kolonialistischen Algerienkrieg wurde, ist verstorben.

»Er war ein so bescheidener Mensch, dass man glaubte, er sei schon längst nicht mehr unter uns«, stellte die Zeitung »Libération« fest. »Der Name Henri Alleg ist auf immer ein Synonym für Wahrheit, Mut und Gerechtigkeit«, würdigte Pierre Laurent, der Nationalsekretär der Kommunistischen Partei, den am Mittwoch Verstorbenen. Alleg wurde 1921 in London als Kind aus Polen stammender Juden geboren. Während des Zweiten Weltkrieges ging er nach Algier, wo er Kommunist und Journalist wurde. Während des Algerienkrieges wurde die von ihm geleitete kommunistische Zeitung »Alger républicain« wegen ihrer Stellungnahmen für den Kampf der Algerier gegen die Kolonialmacht verboten. Im Juni 1957 wurde Alleg von französischen Fallschirmjägern verhaftet und in das berüchtigte Folterzentrum in der Villa El-Biar gebracht.

Mit dem Ziel, seine Peiniger vor Gericht zu bringen, verfasste er heimlich einen detaillierten Bericht über die erlittenen Qualen – von Zigaretten, die auf seiner Haut ausgedrückt wurden, über Elektroschocks bis zum minutenlangen Untertauchen in einer Badewanne. Seinem Anwalt gelang es, das Manuskript dem Verlag Minuit zu übergeben, der Bücher von Résistance-Autoren veröffentlichte.

Das im Februar 1958 erschienene, nur 112 Seiten umfassende Buch schlug ein wie eine Bombe. Zwar hatte es auch vorher schon Presseartikel über Folter durch die Kolonialtruppen in Algerien gegeben, aber jetzt lag erstmals ein detaillierter Bericht vor und rüttelte die Öffentlichkeit auf. Namhafte Persönlichkeiten, darunter viele ehemalige Résistance-Kämpfer, äußerten sich entsetzt über die Parallelen zu den Methoden der nazistischen Besatzer.

Die Regierungen der vierten Republik hatten Folter immer als »bedauerliche Einzelfälle« abgetan oder als »leider notwendig für die Abwehr akuter Terrorgefahr« gerechtfertigt. Doch nun setzte eine landesweite und bald schon internationale Diskussion die Verurteilung dieser Praktiken in Gang.

Nur der Putsch von Algier und die überstürzte Gründung der fünften Republik mit dem an ihre Spitze berufenen General de Gaulle brachten es mit sich, dass Henri Allegs Buch erst nach drei Monaten verboten wurde und bis dahin schon 65 000 Exemplare verkauft waren. Neue Auflagen mit insgesamt 150 000 Exemplaren, die in der Schweiz erschienen, wurden nach Frankreich geschmuggelt und verbreitet, wo die Pariser Zeitungen »l'Humanité« und »Le Canard enchaîné« Auszüge nachdruckten.

1960 wurde Henri Alleg wegen Unterstützung der Nationalen Befreiungsfront FLN zu zehn Jahren Haft verurteilt, konnte aber fliehen und ins Ausland gehen. Erst nach den Verträgen von Evian von 1962, die das Ende des Krieges, die Unabhängigkeit Algeriens und eine Generalamnestie brachten, konnte er nach Frankreich zurückkehren.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 20. Juli 2013


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