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Frankreichs strahlendes Erbe in der Sahara

Von Werner Ruf *

Am 13. Februar 1960, also vor genau fünfzig Jahren, unternahm Frankreich, das nach dem Willen des damaligen Staatspräsidenten General De Gaulle mit der Entwicklung der force de frappe in den Kreis der Atommächte aufsteigen sollte, seinen ersten Nuklearversuch in der Sahara, der in der Nähe des Ortes Reggane stattfand. Nach 1967 wurden die französischen Atomversuchen in die ehemalige Kolonie Polynesien verlegt. Unter dem Decknamen "Gerboise Bleue" (blaue Springmaus) wurde eine überirdische Explosion ausgelöst, die das Vierfache der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe hatte.[1] Diesem Versuch folgten in kurzen Zeitabständen drei weitere: die weiße, rote und grüne Springmaus. In der Nähe der Orte, an denen die "gerboise"-Versuche stattfanden liegen bis heute große Brocken von zu Glas verschmolzenem Sand, die hoch radioaktiv sind.

Am Tage der ersten Explosion gab es zwar einige Sicherheitshinweise: Die Menschen sollten ihre Behausungen verlassen, vor allem sollten sie im Augenblick der Explosion ihre Augen geschlossen halten.[2] Die Familien der Offiziere waren evakuiert worden. Aus Versuchsgründen waren sowohl militärisches Material wie auch Tiere in die Nähe des Explosionsortes verbracht und mit Messgeräten versehen worden. Viele Tiere, die den Versuch überlebten, wurden danach von den Arbeitern der Basis geschlachtet und verzehrt. Nicht einmal der Explosionsort wurde gesichert.

Nach diesen überirdischen Explosionen folgte eine Reihe von unterirdischen Versuchen, die bis 1967 fortdauerten. Von einem dieser Versuche, der den Decknamen "Beryl" trug, ist bekannt, dass er misslang: Er setzte am 1. Mai 1962 eine riesige radioaktive Wolke frei, die (zumindest) sämtliche auf dem Versuchsgelände von In-Eker, ca. 100 km südlich von Reggane anwesenden französischen Soldaten, Arbeiter und Bewohner des Raumes verstrahlte. Die Versuche wurden fortgesetzt bis in die Jahre 1966 bzw. 1967.[3] Insgesamt hat Frankreich 17 Versuche in der Sahara offiziell zugegeben, tatsächlich wurden aber weitere 35 "ergänzende" Versuche durchgeführt, so genannte "kalte Versuche". Ihr Ziel war es, chemische Explosivstoffe an kleinen Mengen Plutonium zu testen, die pulverisiert und in der Umwelt freigesetzt wurden. Simuliert wurde auch der Absturz eines mit einer Atombombe bestückten Flugzeugs, wodurch große Flächen mit pulverisiertem Plutonium verseucht wurden.84] Durch die sporadischen Regenfälle dürfte die Radioaktivität auch in das Grundwasser geschwemmt worden sein, wo es sich in unterirdischen Wasserläufen unkontrolliert verbreitet. Die Grundwasser-Reserven unter der Wüste sind die Voraussetzung für das Überleben der Bevölkerung nicht nur in Algerien, sondern auch in den angrenzenden Sahel-Staaten.

Die Sahara ist keineswegs menschenleer: Nicht nur in Reggane, sondern auch in kleinen umliegenden Orten gibt es kleine Siedlungen. Das Gebiet wird von Nomaden für die Weidewirtschaft genutzt. Als Frankreich im Frühjahr 1964 die Region um Reggane verließ und seine Truppen nach In Eker verlegte, wurde der Stützpunkt Hamoudia (20 km südlich von Reggane), wo die "heißen" Versuche stattgefunden hatten, dem Erdboden gleichgemacht, die verbliebenen Reste notdürftig von Bulldozern mit Sand und Geröll bedeckt. Nun setzte eine wahre Wanderung von "Schrotthändlern" ein, die z. T. aus weit entfernten Gebieten kamen, um metallische Gegenstände jeder Art auszugraben, einzusammeln und weiter zu verkaufen. Besonders gesucht waren Kabel, deren Isolierung an Ort und Stelle verbrannt wurde, damit das Kupfer verkauft werden konnte. Diese Ware gelangte bis auf Märkte in Marokko, Mali, teilweise sogar nach Europa.

Bis heute wurde nicht festgestellt, ob die Klagen der Bevölkerung über häufige Krebserkrankungen, die Zunahme von Missbildungen, taubstummen und blind geborenen Kindern, die Häufung von Fehlgeburten, Deformationen auch bei neugeborenen Tieren zutreffend sind. Die Produktion von Tomaten und deren Export nach Europa wie auch die Dattelproduktion, die hauptsächlich nach Niger und Mali exportiert wurde, sind zum Stillstand gekommen, weil die Pflanzen nicht mehr wachsen. Doch es wurden und werden keinerlei Untersuchungen durchgeführt, die eine kausale Relation zwischen diesen Veränderungen und der Verstrahlung belegen, nicht zuletzt fehlen Vergleichsuntersuchungen aus der Zeit vor den Nuklearversuchen.

Bis 2008 hatte die französische Regierung jede Diskussion über Entschädigungen mit der Behauptung abgelehnt, es habe sich um "saubere Versuche" gehandelt.[5] Erst im November 2008 gab die französische Regierung dem Druck zahlreicher Opfer-Organisationen auch aufgrund einer wachsenden Zahl von Berichten und Untersuchungen nach und kündigte eine individuelle Entschädigung der Opfer an. In der Gesetzesvorlage ist allerdings keine Dekontamination der verseuchten Gebiete vorgesehen, so dass die dort noch immer vorhandene Strahlenbelastung bestehen bleibt.

Die nun im Prinzip beschlossene Entschädigung von Strahlenopfern, die sich während des Versuchszeitraums in dem Gebiet aufgehalten haben, setzt aber den individuellen Nachweis einer Kausalität zwischen den rd. 50 Jahre zurückliegenden Versuchen und Erkrankungen voraus. Dies mag im Falle noch lebender oder inzwischen verstorbener ehemaliger französischer Soldaten möglich sein. Erheblich schwieriger ist dies im Falle der in der betroffenen Region lebenden Menschen, da die medizinische Versorgung ohnehin schlecht ist und es keinerlei Daten über den Gesundheitszustand der Menschen vor der Zeit der Versuche gibt. Schlicht unmöglich ist aber die Identifizierung und Untersuchung jener (im Zeitraum der Versuche wechselnden) rd. 3.500 Arbeiter aus Algerien, Mali, Niger, Mauretanien und anderswo, die im Versuchsgelände beschäftigt waren. Gänzlich offen bleibt die Frage, was mit jenen Menschen geschehen soll, die sich nach den Versuchen und z. T. bis heute im Gebiet aufhalten oder aufgehalten haben und dort verstrahlt wurden.

Durch ein Gesetz vom Juli 2008 wurden die Unterlagen über die Atomversuche für unbegrenzte Zeit als geheimhaltungsbedürftig eingestuft - kurz bevor der französische Staat sich im November 2008 zu Entschädigungen für die Opfer bereit erklärte. Sowohl die Aufklärung der Versuche, eingetretener Unfälle und ihrer Folgen wie auch überfällige Schutzmaßnahmen gegenüber der heute in der Region ansässigen Bevölkerung werden so verhindert.[6]

Erst im Jahre 1999 (!) hatten Frankreich und Algerien der Internationalen Atomenergiebehörde einen ersten Besuch der Region gestattet. Die IAEA stellte in ihrem schließlich 2005 veröffentlichten Bericht - mehr als vierzig Jahre nach den Versuchen - dann auch nur fest, dass die Verstrahlungsgefahr im allgemeinen gering sei - außer in vier Zonen, zu denen der Zugang verboten werden müsse, darunter vor allem ein Gebiet mit einem Radius von zwölf km um den Explosionsort Hamoudia 20 km südlich von Reggane.[7] Dieses wurde von der algerischen Regierung eingezäunt, wodurch aber letztlich der Zugang zu dem Gebiet nicht verhindert werden kann.

Da Frankreich die unter Geheimhaltungsschutz gestellten Dokumente auch der Untersuchungskommission der IAEA vorenthielt, gibt es in deren Bericht auch keine Angaben über die Orte, an denen radioaktive Trümmer verscharrt wurden. Und da auch die algerischen Behörden keinen Zugang zu diesen Unterlagen haben, offensichtlich aber auch nicht auf Einsicht in diese drängen, können sie sich darauf berufen, dass sie aufgrund von Unkenntnis keine Vorsichtsmaßnahmen ergreifen können. Dabei wären eigene Untersuchungen sehr wohl möglich, weil Algerien, das ein ehrgeiziges Nuklearprogramm verfolgt (vgl. unten) durchaus über einschlägig qualifizierte Experten verfügt.

Ohne jeden Zweifel trägt der algerische Staat eine schwere Mitverantwortung, ja Mitschuld an der Schädigung von Leib und Leben der betroffenen Bevölkerung: Am 5. Juli 1962 wurde Algerien unabhängig. In einem Geheimabkommen zu den im März 1962 ausgehandelten Verträgen von Evian, der Grundlage der algerischen Unabhängigkeit, hatte die Führung der Nationalen Befreiungsfront (FLN) Frankreich die Fortführung der Versuche gestattet, also auf Teile seiner Souveränität verzichtet. Noch fünf Jahre nach der Unabhängigkeit nutzte Frankreich die Region für atomare, chemische und ballistische Versuche. Algerien selbst machte seit dem Abzug Frankreichs (1967) auf dem Gebiet keine einzige Untersuchung, um die Gefährdung für die Bevölkerung festzustellen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Der lapidare Verweis auf die Verantwortung Frankreichs und die rituellen Hinweise auf die fürchterlichen französischen Kriegsverbrechen während des Dekolonisierungskrieges wirken so eher als Ablenkungsmanöver von der eigenen Untätigkeit.

Mehr noch: Reggane, Hamoudia, In Eker sind nicht die einzigen Orte, an denen sich giftige Hinterlassenschaften der ehemaligen Kolonialmacht finden: Ebenfalls in der Wüste, in der Nähe von Beni Ounif gegenüber der marokkanischen Grenzstadt Figuig unterhielt Frankreich die "Basis 2", auch "B2-Namous" genannt, wo bis 1978 (!) Versuche mit Giftgas durchgeführt wurden.[8] Die Gase wurden von den Pflanzen absorbiert und führten (führen noch?) zu schweren Missbildungen und teilweise zum Tode von Tieren der Nomaden (Schafe, Ziegen, Dromedare). Auch bei den Menschen gibt es eine außergewöhnliche Häufung von Lungen- und Leberkrebs und von Hautkrankheiten. Das betroffene Gebiet ist etwa 1 1/2 mal so groß wie der Libanon. Provisorische Absperrungen aus Stacheldraht haben die Nomaden längst für andere Zwecke verwendet, auch hier fehlen sämtliche Unterlagen über Art, Umfang und Ziel der Versuche, die auch hier auf der Grundlage von Geheimverträgen zwischen Paris und Algier stattfanden. Von 1967 bis 1978 war es sogar die algerische Armee, die das Versuchsgelände der privaten französischen Firma SODETEG (einer Tochter des Rüstungsgiganten Thomson [9]) sicherte.[10] Ansprüche an den französischen Staat dürften so von vornherein ausgeschlossen sein.

Wichtiger als die Beschäftigung mit den Altlasten aus der kolonialen und nachkolonialen Vergangenheit ist dem Regime in Algier der Aufbau einer eigenen Atomindustrie: Zwei Reaktoren sind bereits in Betrieb, eine technische Zusammenarbeit mit den USA wurde vertraglich vereinbart,[11] auch die Finanzierung erfolgt in Zusammenarbeit mit den USA.[12] Eine dritte Anlage ist in Kooperation mit Frankreich im Bau.[13] Insgesamt plant Algerien bis zum Jahr 2028 den Bau von zehn Atomkraftwerken.[14] Sie sollen vor allem in Zusammenarbeit mit Frankreich erstellt werden: Die wohl weltgrößte Firma für den Bau von Atomanlagen, Areva,[15] wird voraussichtlich die vorgesehenen Druckwasser-Reaktoren liefern. Daneben kooperiert Algerien im Nuklearbereich auch mit Iran und China. Bleibt zu hoffen, dass diese Anlagen sicherer sind als es die französischen "sauberen" Versuche waren.

In Reggane selbst gibt es seit 1997 eine Bürgerinitiative, die Informationsmaterial über die Gefahren der Verstrahlung produziert und vor allem an die Schüler verteilt. Sie fordert, dass Frankreich die Versuche als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt und eine Entgiftung der Region und wenigstens der Trinkwasserbrunnen durchführt, vor allem aber, dass der Zusammenhang zwischen Strahlung und den sich häufenden Krankheiten untersucht wird. Ferner wird gefordert, dass Frankreich die Karten zur Verfügung stellt, aus denen hervorgeht, wo die radioaktiven Reste vergraben sind und dass den Opfern eine Entschädigung gezahlt wird. Gefordert wird aber auch, dass die Versuche und ihre Folgen Aufnahme in die Lehrpläne und Lehrbücher der algerischen Schulen finden.

Ob aber unter den gegebenen Bedingungen algerische (und andere) Opfer jemals den Nachweis werden führen können, dass Erkrankungen und Missbildungen ursächlich auf die Atomversuche zurückgeführt werden können, muss mehr als zweifelhaft bleiben. Einigen wenigen Opfern im (französischen) Norden könnten also spät Entschädigungen zuteil werden. Den Menschen im Süden bleibt - auch dank des Verhaltens ihrer eigenen Regierung(en) - selbst eine eher symbolische Wiedergutmachung verwehrt.

Anmerkungen
  1. Vgl. Le Monde, 11. Februar 2009.
  2. Liberté, 14. Februar 2009.
  3. A. a. O. Andere (vor allem algerische) Zeitungen datieren das Ende der Versuche auf das Jahr 1966.
  4. Interview mit Bruno Barillot in: Le Quotidien d'Oran, 23. Mai 2009. Barillot ist Priester und Umweltaktivist sowie Autor mehrerer einschlägiger Publikationen über die Folgen der französischen Atomversuche.
  5. Interview mit Bruno Barillot a. a. O.
  6. Ebenda.
  7. Ebenda.
  8. s. u. A.: El Watan, 14. Juni 2009.
  9. Thompson-CSF ist ein gigantischer Elektronik- und Rüstungskonzern, der mittlerweile unter dem Namen Thales-Group firmiert. Neben EADS ist er eine der führenden europäischen Rüstungsfirmen. Mehrheitseigner sind zu gleichen Teilen der französische Staat und der Kampfflugzeug-Hersteller Dassault.
  10. El Watan, 14. Juni 2009.
  11. El Watan, 10. Juli 2007.
  12. El Khabar, 8. Juni 2008.
  13. Ebenda.
  14. L'Expression, 10. Januar 2008.
  15. Areva ist auch verflochten mit Siemens-Nuclear und Hauptsponsor des 1. FC Nürnberg. Zu den Machenschaften des Konzerns im Sahel-Raum vgl.: Ruf, Werner : Niger; in: Ruf et al.: Militärinterventionen: verheerend und völkerrechtswidrig, Berlin 2009, S. 191 - 203.



Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 60/Winter 2009, Jahrgang 15

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