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"Alles ist Markt in Albanien, alles ist käuflich"

Das Credo von Mutter Teresa hat im Land der Skipetaren kaum noch Bedeutung

Von Hannes Hofbauer, Tirana*

Knaben wollen in Albanien nicht Pilot oder Rennfahrer werden, sondern Zöllner – ein verheerendes Zeugnis für den Staat. Nur darum geht es, in einer Position zu sitzen, die es gestattet, für die eigene Tasche zu sorgen.

»Der Staat hält für die Menschen überhaupt nichts bereit«, erklärt Ledia Lazeri von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die junge Frau ist einer der ganz wenigen sozial engagierten Menschen, die ich in Tirana treffe. So allgegenwärtig in Schaufenstern und Geschäftslokalen einem das Konterfei der zur Zeit offensichtlich beliebtesten Albanerin, der katholischen Nonne Mutter Teresa begegnet, so abwesend scheint ihr Lebensantrieb, nämlich den Ärmsten der Armen helfen zu wollen, im gegenwärtigen Tirana.

Ledia Lazeri bildet eine rühmliche Ausnahme. Die Ärztin hat sich der Hilfe psychisch Kranker verschrieben. »Die Albaner leben in einer Gesellschaft, die für den kommenden Tag völlig unvorbereitet ist«, erklärt die WHO-Koordinatorin das häufige Auftreten stressbezogener Krankheiten. Der Staat hat sich von der Lösung solcher Aufgaben weitgehend abgemeldet.

Soziale Versicherungen gibt es nur auf dem Papier. Wenn jemand ärztliche Betreuung braucht und keinen fetten Bakschisch bereit hält, passiert es häufig, dass die Aufnahme ins Spital aus fadenscheinigen Gründen verzögert wird oder eine Behandlung nicht erfolgt. »Wir haben es mit einer spezifischen Form der Konspiration zwischen Gemeindeverwaltern und korrupten Spitalsangestellten zu tun, unter denen die Patienten zu leiden haben«, so Frau Lazeri.

Unbändiger Hass auf den Staat

Was im Gefolge des Zusammenbruchs 1989/1991 in anderen Ländern Osteuropas dazu geführt hat, dass mit der Diskreditierung des Kommunismus und Sozialismus die soziale Frage als Ganzes in Misskredit geraten ist, hat in Albanien noch radikaler Kreise gezogen. Der Staat als solcher hat ein schlechtes Ansehen. Mehr noch: Er ist für viele Albaner zur hassenswerten Einrichtung geworden. Dies hatte sich bereits bei der »Revolution« von 1991 bemerkbar gemacht, als Massen von Menschen staatliche Symbole und Einrichtungen angezündet und vernichtet haben. Dieser systematischen Zerstörungswut fielen auch Schulen, Kindergärten und Bäckereien – üblicherweise keine Symbole der Unterdrückung – zum Opfer.

Der Hass auf alles Staatliche wurzelt freilich tief in der albanischen Geschichte. 500 Jahre lang schickte die Hohe Pforte aus Konstantinopel ihre Verwalter in die albanisch besiedelten Vilayets, die einfachen Menschen erreichte das Osmanische Reich indes nur sehr partiell: mit der Knabenlese und der Tributzahlung. Und selbst diesen beiden Erscheinungsformen der Staatsmacht konnten sich viele Albaner in den unwegsamen Gebirgen entziehen.

Enver Hoxhas Staatlichkeit war demgegenüber hausgemacht, hart und brutal in ihrer Modernisierungsanstrengung, unrealistisch in ihrer Durchführung. Kein Wunder, dass sich die Wut des Volkes oder zumindest eines großen Teiles davon nach dem Sturz des alten Systems in der Destruktion staatlicher Symbole und Einrichtungen entlud. Der Wiederaufbau staatlicher Strukturen geht seither mehr als schleppend voran.

Die Mischung aus einer gewissenlosen Marktteilnahme und tradierten, vormodernen Bräuchen ist einmalig im Nachwendekarussell Osteuropas. »Alles ist Markt in Albanien, alles ist käuflich«, sagt Ledia Lazeri. Die Studenten kaufen ihre Professoren, die Professoren ihre Posten, und das ironischerweise auch an der Juristischen Fakultät, wo unlängst bekannt geworden ist, zu welchen Preisen die angehenden Richter und Rechtsanwälte ihre Prüfungsfragen erworben haben.

Radikal für den Markt als alles bestimmende Kategorie spricht sich hingegen der Dekan der Wirtschaftsfakultät von Tirana aus. Er mimt den theoretischen Spiritus rector der individuellen Gewissenlosigkeit, die den Staat nicht braucht, solange es alles zu kaufen gibt. »Wenn der Staat nicht weiß, was er mit dem Geld anfangen soll, ist es besser, dass er keine Steuern eintreibt«, findet Dhori Kule. »Wir dürfen nicht sagen, dass private Monopole zerstört gehören.« Und mit einer Geschichte aus dem Weißen Haus in Washington, die er treffend für die Transformation Albaniens hält, setzt der Wirtschaftsprofessor seine radikale Lehrstunde fort. »Der Präsident der Vereinigten Staaten«, erzählt er, »lud dereinst die zehn reichsten Milliardäre zum Dinner. Beim Nachtisch begann er sich zu beschweren, dass niemand der zehn Milliardäre mit ihm gesprochen hätte, und fragte erbost: ›Wissen Sie nicht, wer Sie heute zum Essen eingeladen hat? Ich bin der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.‹ Worauf die zehn Reichsten nüchtern erwiderten: ›Und wir sind die Vereinigten Staaten von Amerika.‹«. Welche Art von Wirtschaftswissenschaft der gut 60-Jährige unter Enver Hoxha gelehrt hätte, will ich abschließend noch wissen. Er antwortet ausweichend.

Exportiert wird nur noch etwas Tabak

Schaut man sich in der Landwirtschaft um, für die das Land der Skipetaren ja einst berühmt war, wird man auch nicht eben optimistisch gestimmt. Anfang der 90er Jahre hat das Agrarprodukt des Landes noch 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausgemacht, 15 Jahre später erscheint es in der Statistik mit vier Prozent. Die Zahlen trügen indes ein wenig. Landwirtschaftliche Exporte gibt es zwar außer ein bisschen Tabak in die Nachbarländer so gut wie keine mehr, und die rund 200 mächtigen staatlichen Kombinate, dereinst Lieferanten von Tomaten und anderen Gemüsesorten in Richtung Westeuropa, existieren ebenfalls nicht mehr. Die albanischen Menschen außerhalb der Städte leben indes weiterhin von dem, was die Erde hergibt. Zwischen 55 und 70 Prozent der Bevölkerung sind nach wie vor agrarisch verwurzelt. Die meisten verbrauchen selbst, was sie produzieren.

Das Wendejahr 1991 sah eine radikale Landreform. Es war dem alten System zu verdanken, dass es etwas zu verteilen gab. Denn die Isolationskommunisten hatten Tausende Hektar Land urbar gemacht, Sümpfe trocken gelegt und Wälder gerodet, um aus eigener Kraft, angeleitet von der Partei und vom Parteiführer, mittels Landgewinnung das Volk zu ernähren, wie es damals in der Propagandasprache hieß. Diese zum großen Teil zwischen 1960 und 1980 entstandenen neuen landwirtschaftlichen Flächen kamen dann im Jahr 1991 zur Verteilung. Denn während altes Eigentum an die Familien der ehemaligen Besitzer zurückgegeben wurde, kam das neue Agrarland einfach unters Volk.

»90 Prozent der insgesamt 700 000 Hektar landwirtschaftlich nutzbares Land wurden unter der Dorfgemeinde aufgeteilt«, erklärt der stellvertretende Landwirtschaftsminister Ndoc Faslia. Über 350 000 Familien haben auf diese Art und Weise, je nach Gunst- bzw. Ungunstlage ihres Dorfes, zwischen 0,3 und 2,1 Hektar bekommen. Im Durchschnitt sind es 1,3 Hektar pro Familie, die zum Überleben gerade so ausreichen, wenn ein Familienmitglied in Italien oder Griechenland dazuverdient.

Ndoc Faslia ist ein Mann aus dem Norden Albaniens, mit einem bäuerlichen Äußeren und Händen, die sich im Büro am Skanderbeg-Platz ein wenig deplaziert vorkommen. Freimütig gesteht er, dass es mit der Landwirtschaft seit der Wende rückwärts gegangen sei. »Die Zerstückelung des Landes«, sagt er, »bereitet uns Probleme. Dazu kommt, dass alte Exportmärkte wie die DDR oder Österreich nicht mehr existieren.« Ersterer, weil das frühere kommunistische Deutschland verschwunden ist, und der zweite, weil Österreich wegen seiner Mitgliedschaft in der EU seit 1995 keine selbstständigen Importverträge mit Drittstaaten mehr schließen darf.

Wer in Albanien allerdings jene Agrargüter produzieren sollte, die der nun geschlossene EU-Markt aufnehmen könnte, bleibt ohnedies rätselhaft. Auf den Märkten in Tirana sieht man Fleisch und Obst aus EU-Europa, Butter aus Holland und Speiseöl aus der Türkei. Bei landwirtschaftlichen Produkten, so der stellvertretende Minister, beträgt das Verhältnis zwischen Importen und Exporten zehn zu eins, ein komplettes Armutszeugnis für ein Agrarland, in dem mehr als die Hälfte der Menschen von der Scholle lebt. Als einziges Exportgut Richtung Deutschland weiß Ndoc Faslia Heilkräuter zu nennen. Vor allem Übrigen schützt die EU ihre Bauern und exportiert gleichzeitig subventionierte Lebensmittel nach Albanien. »Die EU hat hohe Zollmauern für albanische Produkte aufgerichtet«, klagt der Ministerstellvertreter und hofft auf Verhandlungen, die freilich schon seit Jahren ergebnislos verlaufen.

70 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion einer Familie sind für den Eigenbedarf, schätzt Faslia. Nur 30 Prozent kommen auf den – meist lokalen – Markt. Der Verkauf von Grund und Boden ist zwar nicht verboten, findet aber kaum statt. Denn kein Bauer gibt gern das her, wovon er lebt. Und hohe Preise will und kann sein Nachbar auch nicht bezahlen, um ein wenig mehr Land bebauen zu können. Ausländern ist der Grundbesitz nicht erlaubt, allerdings könnten sie Land für 99 Jahre pachten. Doch auch dafür fehlt bislang das Interesse, nicht zuletzt wegen der mangelhaften Infrastruktur.

Verzweiflung ist dem stellvertretenden Landwirtschaftsminister dennoch nicht anzusehen. Man hat den Eindruck, er bewundert seine Landsleute, die sich für das Überleben auf subsistenter Grundlage eingerichtet haben und nichts vom Staat oder vom Markt erwarten.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Januar 2006


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