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Julius Nyerere über den afrikanischen Sozialismus

Reden und Schriften aus drei Jahrzehnten. Ein interessantes Buch

Die folgende Rezension haben wir der Literaturbeilage der jungen welt vom 2. Juni 2001 entnommen.

Julius Nyerere: Reden und Schriften aus drei Jahrzehnten. J. Horlemann Verlag, Bad Honnef 2001, 184 Seiten, DM 28

Julius Kambarage Nyerere (1922-1999), einer der bedeutendsten Staatsmänner Afrikas im 20. Jahrhundert, hat auf vielen Gebieten bedeutende theoretische und praktische Beiträge zur gesellschatlichen Entwicklung in den ehemaligen Kolonialländern geleistet. Eine Auswahl der Schriften des früheren tansanischen Staatschefs (1962-1985) wurde jetzt vom Horlemann Verlag vorgelegt. Nyereres Gedanken sind im heutigen Kontext der kapitalistischen Globalisierung besonders aktuell. Aus ihnen ist zu lernen, wie man übermächtigen Blöcken Widerstand leisten und zu vorherrschenden Lehrmeinungen Alternativtheorien entwickeln und praktizieren kann.

1967 verkündete Nyerere die berühmt gewordene »Deklaration von Arusha«, mit der er den theoretischen Grundstein für den »afrikanischen Sozialismus« legte. Damit leitete der respektvoll »Mwalimu« (Lehrer) genannte Präsident unter dem Namen »Ujamaa« (etwa »Gemeinsinn«) eine Politik der Besinnung auf die eigenen Kräfte seines Landes ein. Tansania sollte von ausländischem Geld unabhängig werden, der Landwirtschaft mehr Gewicht beimessen, kommunale Wirtschaftsformen fördern und auf soziale Gleichheit und Gerechtigkeit hinwirken. Ausländische Unternehmen sollten verstaatlicht und die sozialen Grunddienste ausgebaut werden.

Nyerere hat stets den Unterschied zwischen afrikanischem und europäischem Sozialismus betont. Dennoch oder vielleicht deswegen wurde in Europa seine Definition des afrikanischen Sozialismus verzerrt wahrgenommen. Von seinen Kritikern wurde er in einen Topf mit den sozialistischen Ländern Osteuropas geworfen oder zumindest verdächtigt, mit ihnen in ideologischer »Wahlverwandtschaft« zu stehen. Dagegen erhofften sich seine Anhänger in Europa von ihm die Verwirklichung des »wahren« (europäischen) Sozialismus. Beide Seiten haben ihn nicht verstanden.

Nyerere wies schon 1962 in seinem hier veröffentlichten Aufsatz »Ujamaa - Grundlage des afrikanischen Sozialismus« darauf hin, daß der europäische Sozialismus aus dem Konflikt zwischen den landbesitzenden und den landlosen Klassen, zwischen den modernen Kapitalisten und den Arbeitern, dem industriellen Proletariat, hervorgegangen ist. »Der europäische Sozialist kann sich seinen Sozialismus nicht vorstellen ohne dessen Vater, den Kapitalismus ... Diese Glorifizierung des Kapitalismus durch die doktrinären europäischen Sozialisten ... finde ich unerträglich.« Um den Unterschied noch deutlicher zu machen, formulierte er: »Die Grundlage und das Ziel des afrikanischen Sozialismus ist die Großfamilie. ... >Ujamaa< oder >Familiengemeinsinn< beschreibt dann unseren Sozialismus!«.

In der traditionellen afrikanischen Gesellschaft waren nach Nyerere »arme« wie »reiche« Mitglieder der Gemeinschaft vollständig abgesichert: »In den Stammesgesellschaften waren die einzelnen oder die Familien innerhalb des Stammes >reich< oder >arm<, je nachdem, ob der ganze Stamm reich oder arm war«. - »Sozialismus impliziert ... gerechte Verteilung«. Als Gegenleistung müsse jeder arbeiten. In Afrika gab es laut Nyerere weder den Gedanken des Klassenkampfes noch gleichartige Wörter für »Klasse« oder »Kaste« in irgendeiner Sprache. Die Ujamaa-Idee bleibe auf keinen Stamm und auf keine Nation beschränkt. Jeder Afrikaner ist aus dieser Sicht »Bruder« jedes anderen Afrikaners.

Neben der Idee von »Ujamaa« war »self-reliance« der zweite Pfeiler, auf den Nyerere seinen »afrikanischen Sozialismus« stützte, das Vertrauen auf die eigene Kraft. Darum ging es sowohl in der Arusha-Deklaration als auch in seiner in diesem Buch veröffentlichten Rede vor dem Tansanischen Parlament 1975 »Entwicklung aus eigener Kraft muß unser Grundsatz bleiben«. Förderung der Landwirtschaft und die Produktion von Konsumgütern seien danach die ökonomischen Prioritäten. Self-reliance bedeutet dabei nach Nyerere, »daß jedes Dorf durch Zusammenarbeit seiner Bewohner alle Erfordernisse für das Leben in diesem Dorf selbst erfüllt, soweit dies durch Arbeit seiner Bewohner geleistet werden kann, und daß jedes Dorf darüber hinaus Mehrwert produziert, um die Kosten für andere notwendige Dienste aufzubringen, die von den Dorfbewohnern und der Nation als Ganzes benötigt werden. Dasselbe gilt für jeden Distrikt und jede Region«.

Der in seinen Reden und Schriften wiederkehrende Schlüsselsatz Nyereres zum Begriff von Entwicklung lautete: »Ein Land kann nicht entwickelt werden. Nur Menschen können sich selbst entwickeln«. So schrieb er in »Freiheit und Entwicklung«: »Entwicklung meint in Wirklichkeit die Entwicklung der Menschen. Straßen, Gebäude, Steigerung landwirtschaftlicher Erzeugnisse und andere Dinge dieser Art sind nicht Entwicklung, sie sind nur Instrumente zur Entwicklung«. Demokratie und Bildung waren aus Nyereres Sicht zwei entscheidende Hebel der Selbstentwicklung. Als er 1962 Präsident wurde, waren 85 Prozent der Erwachsenen des Landes Analphabeten, bei seinem Rücktritt 1985 waren es noch neun Prozent. 1962 gingen etwa 50 Prozent der Kinder zur Schule, 1985 besuchten 96 Prozent der Kinder die siebenjährige Schule. Diese Entwicklung wurde in den letzten 16 Jahren durch die von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) diktierte und von seinen Nachfolgern betriebene Politik rückgängig gemacht. Nach Angaben des UNO-Entwicklungsberichtes 2000 ist mittlerweile der Anteil der Schüler in Tansania auf 63 Prozent der Kinder gesunken, mehr als 50 Prozent der Bevölkerung sind wieder Analphabeten.

Die Schriften Nyereres sind nicht nur Dokumente ihrer Zeit. Die in ihnen enthaltene Vision einer gerechten Gesellschaftsordnung ist im Zeitalter der Globalisierung aktueller denn je.

Aly Ndiaye

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