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Ressourcen, Handelswege, Absatzmärkte

Hintergrund. Der "arabische Frühling" hat Nordafrika verändert. Westliche Staaten und Unternehmen kämpfen erneut um Einfluß in der Region

Von Jörg Kronauer *

Gleich mehrfach meldete sich das Auswärtige Amt zu Wort, als Ende November 2011 Zehntausende auf den Tahrir-Platz im Herzen Kairos strömten, um ihrem Protest gegen das ägyptische Militärregime Ausdruck zu verleihen. Auch Außenminister Guido Westerwelle (FDP) persönlich mischte sich ein. Ägypten, verkündete er, stehe »an einem Scheideweg«. Die erneuten Proteste zeigten es überdeutlich: Freie Wahlen müßten umgehend abgehalten werden. Die Arabische Republik sei »ein Schlüsselland« in der Region: »Wir müssen unsere ganze Kraft einsetzen, damit aus einem Transformationsprozeß ein wirklicher Wandel wird.« Denn Kairo, das ließ Westerwelle unerwähnt, besitzt für die deutsche Außenpolitik beträchtliche Bedeutung, weshalb man sich in Berlin entschieden dafür einsetzt, das Land vor einem Abgleiten in anhaltende Unruhen zu bewahren. Dafür sind Wahlen gut geeignet, weil sie einer Regierung eine gewisse Legitimität verschaffen. Die deutschen Interessen in Ägypten, die das Auswärtige Amt zu seiner verbalen Einmischung trieben, sind stark, auch wenn sie, ebenso wie die in den anderen Staaten Nordafrikas, in der politischen Debatte um den »arabischen Frühling« allzu gern übersehen werden.

Einiges zu holen

Daß Ägypten für die deutsche Außenpolitik alles andere als unwichtig ist, liegt aus mehreren Gründen auf der Hand. Zunächst hat das Land den Ruf, der vielleicht wichtigste arabische Staat zu sein – nicht nur wegen seiner historischen Bedeutung, sondern auch wegen seiner hohen Bevölkerungszahl und, last but not least, wegen der Größe seiner Streitkräfte, die die zahlenmäßig stärksten in ganz Afrika sind. Vor allem jedoch besitzt Ägypten eine außergewöhnliche geostrategische Bedeutung: Mit dem Suezkanal kontrolliert es den Wasserweg, der Asien direkt mit Europa verbindet. Das ist ein Faktor, dessen Gewicht sich konkret beziffern läßt. So werden nicht nur rund zwölf Prozent der europäischen Erdölimporte durch den Suezkanal transportiert. Auch für die NATO ist er von äußerster Wichtigkeit, denn über ihn kann sie Kriegsschiffe aus dem Mittelmeer jederzeit in Richtung Mittelost verlegen.

Aus Sicht der Bundesrepublik, genauer: der deutschen Wirtschaft, ist zudem von höchster Bedeutung, daß große Teile des gewaltig boomenden Asienhandels per Schiff abgewickelt werden müssen – ebenfalls über den Suezkanal, will man den langen und teuren Umweg am südlichen Afrika vorbei vermeiden. Der florierende Warenaustausch zwischen Deutschland und China etwa wird zu 70 Prozent über die Meere realisiert. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, welche Schäden die Konzernprofite nehmen könnten, sollte der Seeweg durch den Suezkanal nicht mehr problemlos offenstehen.

Hinzu kommen unmittelbare ökonomische Vorteile vor Ort. Ägypten ist eines der nicht allzu zahlreichen arabischen Länder, in denen deutsche Energiekonzerne schon seit Jahrzehnten tätig sind; RWE Dea fördert dort seit beinahe 40 Jahren Erdöl. Die Mengen sind nicht riesig, es winken jedoch umfassendere Geschäfte in der Erdgasbranche, in der deutsche Unternehmen ohnehin stärker sind als beim Öl: Immerhin werden die ägyptischen Gasreserven, die sich auf 1,1 Prozent der weltweiten Vorkommen belaufen, vom Auswärtigen Amt als »strategische Bezugsquelle« eingestuft. Kairo hat angekündigt, in den kommenden Jahren zum wichtigsten Flüssiggaslieferanten Europas aufsteigen zu wollen. Selbst wenn das nicht gelingen sollte – mit der wirtschaftlichen Deregulierung, die in den letzten Jahren eingeleitet wurde, ergeben sich äußerst profitable Chancen auch für die deutsche Industrie. Immer mehr entwickelt sich Ägypten zu einem beliebten Niedriglohnstandort für Unternehmen; Autokonzerne und -zulieferer wie BMW, Daimler, Leoni oder Dräxlmeier lassen dort produzieren. Selbst der Einzelhandel bemüht sich seit geraumer Zeit: Metro hat 2010 seine ersten Zweigstellen in Ägypten eröffnet. Es gibt also aus Sicht der deutschen Wirtschaft in dem Land durchaus einiges zu holen.

»Transformationspartnerschaft«

Der »arabische Frühling« hat die Dinge aus Sicht Berlins ziemlich verkompliziert. Zunächst hat er die langjährige gute Zusammenarbeit mit Expräsident Hosni Mubarak zunichte gemacht. Das wog anfangs nicht nur deswegen schwer, weil die unmittelbaren Auswirkungen von Demonstrationen und Streiks so manche Konzernkasse belasteten: Daimler etwa verzeichnete beträchtliche Verluste durch Arbeitsausfälle, Metro beklagte die Zerstörung eines kompletten Supermarkts. Unter Mubarak waren die Verhältnisse bekanntermaßen »stabil« gewesen.

Von wohl größerer Bedeutung war aber die Tatsache, daß es im Hintergrund der Proteste stets auch um die Deregulierung der ägyptischen Wirtschaft ging. Die Generäle, erläuterte im Frühjahr Frank Nordhausen, Journalist bei der Berliner Zeitung, kontrollierten nicht nur die Kairoer Politik, sie seien im Laufe der Jahrzehnte auch »zu einer enorm organisierten Interessengruppe nationalistischer Geschäftsleute geworden«, besäßen »riesige Ländereien« und kontrollieren »rund 45 Prozent der Wirtschaft Ägyptens, vom Suezkanal über Einkaufszentren bis zu Hotelketten und Resorts am Roten Meer«. Das sei die Ursache dafür, urteilte Nordhausen, warum sie »den neoliberalen Ausverkauf der Ressourcen« ganz entschieden ablehnten. Letzterer jedoch sei vor allem vom Mubarak-Clan betrieben worden – in Kooperation mit westlichen Regierungen und Unternehmen. Mubaraks Sturz also bedeutete auch, daß die Deregulierungsfraktion im Kairoer Establishment einen schweren Schlag hinnehmen mußte. Dies war keineswegs im Interesse Berlins.

Die Bundesregierung hat daher sehr rasch auf die Entwicklung reagiert. Bereits am 31. Januar – Mubarak war noch im Amt – meldete sich der deutsche Außenminister mit Vorschlägen für eine »Transformationspartnerschaft« zu Wort. Worauf das Vorhaben abzielte, zeichnete sich am 25. Februar deutlich ab, als Westerwelle zum ersten Mal nach Mubaraks Sturz nach Kairo reiste. Er hatte zwei Männer dabei, deren Ämter erkennen ließen, worum es ging: den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Dirk Niebel, und Ernst Burgbacher, den parlamentarischen Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Die ökonomische Kooperation mit dem neuen ägyptischen Militärregime mündete schließlich in eine »Berliner Erklärung«, die Westerwelle und sein Kairoer Amtskollege, Mohamed Kamel Amr, am 12. August 2011 in der deutschen Hauptstadt unterzeichneten. Im PR-Teil des Dokuments war viel von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit die Rede, Phrasen, die wie üblich das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen. In der Tat – das Militärregime hat in nur neun Monaten mehr Aktivisten der Demokratiebewegung vor Gericht gestellt als Mubarak in seiner gesamten Amtszeit; unter anderem dies rief Ende November die neuen Proteste auf dem Tahrir-Platz hervor. Entscheidend an der »Berliner Erklärung« war allerdings anderes. »Beide Seiten«, heißt es in dem Papier, »erkannten die Notwendigkeit an, die Märkte weiter zu liberalisieren und Handelsbarrieren zu senken« – ganz im Sinne der expandierenden deutschen Industrie.

Neue Netzwerke

Die Umbrüche in Ägypten, vor allem aber in Tunesien haben für Berlin ein weiteres Problem mit sich gebracht: Sie haben die dortigen Eliten kräftig durcheinandergeschüttelt – und damit die seit langem bestehenden deutschen Verbindungen nach Kairo und Tunis teilweise entwertet. Noch im Dezember 2010 traf etwa eine hochrangige tunesische Parlamentarierdelegation in Berlin ein und besuchte dort die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung. Deren stellvertretender Generalsekretär nannte Ben Alis Tunesien bei dieser Gelegenheit ganz offiziell einen »ausgezeichneten Partner«. Bereits wenige Wochen später konnte man das Treffen und seine Ergebnisse getrost vergessen – und was vielleicht noch wichtiger ist: Diverse einflußreiche Kontaktpersonen der Stiftung aus Ben Alis Umfeld waren von den Umbrüchen schlicht hinweggefegt worden.

Nun sind die parteinahen Stiftungen nicht beliebige Organisationen, auf die man eine Weile verzichten kann. Roman Herzog hat sie einst, als er Bundespräsident war, »wirksamste Instrumente der deutschen Außenpolitik« genannt, und das mit gutem Grund. Entsprechend bemühte sich Berlin rasch um eine Neujustierung der Stiftungstätigkeit. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit stellte insgesamt 5,25 Millionen Euro »zur Förderung des Demokratisierungsprozesses und unabhängiger Medien« bereit; ein erheblicher Teil dieser Mittel floß in Projekte der parteinahen Organisationen, darunter der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die Gelder werden nun gerade auch in Milieus eingesetzt, die in den Umbrüchen nach oben drängen und bislang noch keine umfassenden Kontakte nach Deutschland unterhalten. So bemüht sich die Adenauer-Stiftung in Tunesien etwa nicht nur um Beziehungen zu hochrangigen Militärs – wer weiß, was in Zukunft noch alles passiert –, sondern auch um Kontakte zur islamistischen Ennahda-Partei. Das ist neu, die Organisation war in Ben Alis Tunesien ja bekanntlich verboten.

Dieser Staat besitzt aus Sicht Berlins vor allem wirtschaftlich beträchtliche Bedeutung. Er ist, weit mehr noch als Ägypten, ein klassisches Niedriglohnland hiesiger Unternehmen. In ihm sind über 250 meist für den Export arbeitende Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung präsent. In der Regel führen sie in großem Stil Vorprodukte ein – vor allem Textilien und Autoteile –, die in Tunesien weiterverarbeitet und dann wieder exportiert werden. Das Land hat nichts davon – außer niedrigen Löhnen und einem gewissen Extraprofit, den die bis Januar 2011 herrschenden Kreise um Ben Ali auf die eine oder andere Weise für sich abzuzweigen verstanden. Für Firmen wie den Autozulieferer Leoni, der allein in Tunesien 12000 Menschen für seine Profite arbeiten läßt, sind diese Verhältnisse jedoch höchst lukrativ, weshalb Tunesien, obwohl der kleinste der Maghrebstaaten, der bedeutendste unter ihnen für den deutschen Außenhandel ist. Die Streiks, die in Tunesien noch bis weit in den Sommer 2011 hinein durchgeführt wurden, stießen bei hiesigen Unternehmen denn auch überhaupt nicht auf Begeisterung. Berlin reagierte hier ähnlich wie in Ägypten – mit einer sogenannten Transformationspartnerschaft, die vor allem eine wirtschaftliche »Stabilisierung« begünstigen soll.

Konkurrent Frankreich

In Tunesien ist die deutsche Außenpolitik mit einer Schwierigkeit konfrontiert, der sie sich auch in anderen Staaten Nordafrikas gegenübersieht: mit der überaus starken Rolle, welche die ehemaligen Kolonialmächte dort spielen. Das betrifft vor allem Frankreich, das für den gesamten Maghreb der mit Abstand dominierende Wirtschaftspartner ist – will heißen: Die dortigen Länder importierten nirgendwoher so viele Waren wie von ihren ehemaligen Kolonialherren, und sie arbeiten in ihren Niedriglohnbetrieben vor allem für dessen Unternehmen. Spanien folgt in Marokko auf Platz zwei, Italien in Tunesien – Rom hätte das Land gegen Ende des 19. Jahrhunderts wohl gerne zu seiner Kolonie gemacht, wäre Paris ihm nicht zuvorgekommen. In Tunesien hat sich die Bundesrepublik schon relativ früh auf Platz drei in der Rangliste der Wirtschaftspartner vorarbeiten können, allerdings besteht in ganz Nordwestafrika aus Berliner Sicht noch Handlungsbedarf, um die ehemaligen Kolonialmächte, vor allem Frankreich, zugunsten der eigenen Machtstellung zurückzudrängen.

Ein Instrument, mit dem die deutsche Position im französischen Einflußgebiet Nordafrikas ganz gezielt gestärkt werden soll, ist das Paradepferd des Berliner Ökoimperialismus – das Desertec-Vorhaben. Möglichst mit deutscher Technologie soll in den Wüstengebieten Nordafrikas aus Sonne und Wind Energie gewonnen werden. Mittlerweile kann mit Hilfe von Unterwasserkabeln Strom effizient durch das Mittelmeer transportiert werden. 15, womöglich sogar 25 Prozent des europäischen Bedarfs könnten damit gedeckt werden, ist von Experten zu hören. Die ersten Desertec-Projekte laufen inzwischen an. Ob das Vorhaben Erfolg haben wird, ist umstritten. Doch Berlin kommt es auch auf einen Nebeneffekt an: Die aufwendigen Verhandlungen, die zur Realisierung von Desertec notwendig sind, öffnen zwangsläufig zahlreiche Türen, die den Deutschen in den französisch dominierten Ländern Nordafrikas bisher verschlossen waren. Vor allem in Marokko hat Berlin inzwischen Fortschritte erzielt, in Algerien und Tunesien ist es ebenfalls um neue Zugänge bemüht. Dies alles im Namen umweltfreundlicher Energie – da wird gern übersehen, daß sich im Rahmen des Plans, die Länder Nordafrikas für den Strombedarf deutschen Ökobourgeoisie zu nutzen, durchaus neokoloniale Strukturen herauszubilden drohen.

Selbstverständlich sind auch die klassischen Energieträger – Erdöl und Erdgas – für die Berliner Nordafrikapolitik von erheblichem Interesse. Algerien, Libyen und Ägypten verfügen zusammengenommen über rund fünf Prozent der weltweiten Öl- und Gasreserven. Das ist deutlich weniger als die Rekordvorräte des Mittleren Ostens, aber dennoch genug, um starke Begierden zu wecken. Die Bundesrepublik bemüht sich etwa um Zugriff auf das algerische Erdgas; 2006 äußerte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier ganz offen, Berlin wolle eine »Gasallianz« mit Algerien bilden und das Land zur »zweiten Säule« der deutschen Erdgasversorgung neben Rußland machen. Zwar ist E.on Ruhrgas inzwischen in dem Land präsent, doch von einer »zweiten Säule« zu sprechen, wäre gegenwärtig noch maßlos übertrieben. Anders sieht es schon lange in Libyen aus, dem Land mit den siebtgrößten Erdölvorräten der Welt. Dort fördert die BASF-Tochter Wintershall seit 1958; seit 2003 ist auch RWE Dea dort tätig. Libyen war jahrzehntelang der wichtigste außereuropäische Erdöllieferant der Bundesrepublik und rangierte zuletzt immer noch auf Rang zwei. Rund zehn Prozent der deutschen Ölimporte kamen von dort. Entsprechend groß ist das Interesse Berlins, seinen Einfluß in Libyen nicht zu verlieren.

Run auf Tripolis

Ernsthafte Schwierigkeiten für die BRD hat dabei der Libyen-Krieg gebracht. Er hat viel mit der deutsch-französischen Konkurrenz zu tun. Sowohl Deutschland als auch Frankreich hatten eng mit Muammar Al-Ghaddafi kooperiert; er galt beiden als ein auch in Krisenzeiten zuverlässiger Erdöllieferant. Die Gesamtlage änderte sich, als Paris Anfang 2011 in Nordafrika schwer in Mißkredit geriet, weil es die gestürzten Diktatoren Ben Ali und Mubarak allzu lange bedenkenlos unterstützt hatte. Die französische Regierung sah ihren Ruf und ihren Einfluß in Nordafrika bedroht; Präsident Nicolas Sarkozy beschloß, in die Offensive zu gehen. Das Vehikel dazu waren die Aufständischen in Libyen, auf deren Seite Paris sich schlug – um das Bild zu vermitteln, man habe zwar spät, aber immerhin endgültig mit den alten Kräften gebrochen. Ein erhoffter zweiter Effekt der Unterstützung für die Aufständischen war es, Frankreich eine exklusive Position in Tripolis zu sichern, sollte es gelingen, die Rebellen dort an die Macht zu bringen. Sarkozy versuchte, die EU für seine neue Libyen-Politik einzuspannen – und das war der Punkt, wo er in einen unversöhnlichen Streit mit der Bundesregierung geriet. Berlin will die EU für seine eigene Außenpolitik nutzen, nicht aber mit ihr französische Interessen in Afrika bedienen. Seit den zwei Kongo-Einsätzen 2003 und 2006 verweigert es sich daher Interventionspläne aus Paris, etwa der im Jahr 2008 gestarteten EU-Operation im Tschad, die kläglich scheiterte. Auf französische Initiative in Libyen einzugreifen – das kam aus diesem Grund für die Bundesregierung nicht in Frage.

Die Folgen sind bekannt: Berlin rackert sich ab, um bei den mittlerweile an die Macht gelangten libyschen Rebellen Boden gutzumachen. Als Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler im Oktober nach Tripolis flog, da klagte die Wirtschaftspresse, seine Maschine sei »hoffnungslos überbucht« – weit über hundert Unternehmensvertreter hätten in seinem Schlepptau ihre geschäftlichen Wünsche bei den neuen Machthabern vorbringen wollen. Wintershall konnte wenige Tage später erleichtert mitteilen, man habe die Erdölförderung in der libyschen Wüste wieder aufgenommen; im Sommer hatten die Rebellen noch damit gedroht, die von Ghaddafi erteilten Förderlizenzen weithin für ungültig zu erklären und die Rechte komplett neu zu vergeben. RWE Dea wirbt mit Milliardeninvesti­tionen, um die Stellung des Konzerns zu stärken. Der innereuropäische Einflußkampf in Tripolis ist in vollem Gange – ganz abgesehen von der ungeklärten Frage, ob es dem neuen Regime gelingt, sich zu konsolidieren. Die zahlreichen Milizen in Libyen, darunter nicht zuletzt erstarkende islamistische Kräfte, wecken zumindest Zweifel daran. Damit ist zugleich aber auch offen, ob sich der französische Sieg in Libyen vom Herbst 2011 nicht noch nachträglich in eine fatale Niederlage verwandelt – womöglich zugunsten des deutschen Einflusses in Nordafrika.

Rüstungsgeschäfte

Die deutsch-französische Konkurrenz prägt selbstverständlich auch die Berliner Algerien-Politik. Dem Land wird nicht nur wegen seiner Erdgasvorräte Bedeutung zugemessen; es handelt sich schließlich um die zehntgrößten Erdgasreserven weltweit. Algerien erhebe, schrieb Anfang 2011 die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), den Anspruch, eine »regionale Führungsmacht« zu sein. Das macht aus Sicht der Bundesregierung eine Kooperation mit Algier zusätzlich attraktiv – denn die Demokratische Volksrepublik befindet sich in den schwer kontrollierbaren Wüstengebieten Nordwestafrikas in der Tat an einer sehr zentralen Position. Bei der geostrategisch motivierten Kooperation mit Algier steht besonders die Kontrolle unerwünschter Migration und unerwünschten Handels (»Schmuggel«) auf dem Programm. Ende 2010 vereinbarte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem algerischen Präsidenten ­Abdelasis Bouteflika, deutsche Unternehmen an der Abschottung der algerischen Wüstengrenzen zu beteiligen; vor allem die EADS-Rüstungssparte Cassidian, Rhode & Schwarz sowie Carl Zeiss waren Mitte 2011 dann tatsächlich im Geschäft. Um die Zusammenarbeit mit Algerien voranzubringen, hat der Bundessicherheitsrat im Sommer 2011 grünes Licht für Rüstungsexporte im Wert von zehn Milliarden Euro in das Land gegeben. ThyssenKrupp will Fregatten liefern und die algerische Marine ausbilden, Rheinmetall und MAN planen den Bau von Fabriken in dem nordafrikanischen Land, in denen der Transportpanzer »Fuchs« montiert werden soll – zur freien Verwendung für Algeriens Streitkräfte, perspektivisch aber auch zum Weiterexport in andere Staaten der arabischen Welt. Das hätte aus Sicht der deutschen Konzerne auch den Vorteil, sich künftig überhaupt nicht mehr um die ohnehin nicht besonders restriktiven hiesigen Rüstungsexportbestimmungen kümmern zu müssen.

Die Kooperation mit dem algerischen Regime läuft gut; es versteht sich daher von selbst, daß Berlin sich zwar verbal positiv über die vorsichtigen Ansätze des »arabischen Frühlings« in Algerien äußerte, dem allerdings nicht nur keine Taten folgen ließ, sondern die Aufrüstung des Regimes in Angriff nahm. Ähnlich sieht es in Marokko aus, wo die alte Führung noch fest im Sattel sitzt. Das paßt der Bundesregierung gut in den Kram, da sie im Rahmen von Desertec ebensogut mit der marokkanischen Monarchie kooperiert wie einige deutsche Firmen mit Niedriglohnfabriken in dem Land. Daß Berlin sich in Tunesien und Ägypten etwas deutlicher auf die Seite der Kräfte des »arabischen Frühlings« gestellt hat, trägt schlicht den neuen Machtverhältnissen Rechnung. Nach denen muß man sich eben richten, wenn man die deutschen Interessen in Nordafrika angemessen vertreten will.

* Aus: junge Welt, 7. Dezember 2011


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