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Sturm der Gewalt

Jahresrückblick 2011. Heute: Afrika. Wiederkehr der Kolonialkriege. Angriffe auf neues Selbstbewußtsein des Kontinents

Von Gerd Schumann *

Der Wind aus Nord, der seit Jahrhunderten das Klima in Afrika bestimmt, erreichte 2011 zeitweilig Sturmstärke. Das während des vergangenen Jahrzehnts neu herausgebildete afrikanische Selbstbewußtsein erlitt schweren Schaden, dessen Folgen noch nicht absehbar sind. So scheint völlig ungeklärt, wohin sich die Afrikanische Union (AU) wenden wird. Hervorgegangen aus der von 1963 bis 2002 bestehenden Organisation Afrikanischer Einheit, die im Zuge der ersten Entkolonisierungsphase der 1960er Jahre als eine Art Selbstfindungsorgan agierte, schien es seit der Jahrtausendwende fast, als könnte die 2002 gegründete AU das Afrika der Zukunft modellieren. Die Idee eines föderalen Zusammenschlusses der über 50 Staaten mit einer politischen, militärischen und finanzpolitischen Zentrale in Addis Abeba, dem AU-Sitz, wurde zumindest wieder diskutiert.

Vor allem mit den Niederlagen der AU in Libyen und Côte d’Ivoire verschaffte sich der schon totgesagte Kolonialismus, der in beiden Fällen – mit UN-Unterstützung – in kriegerischem Gewand auftrat, gewaltsam Respekt. Jenes tradierte Angstgefühl, das immer noch auf dem Kontinent lastet und den Willen zum Aufbruch stets in leisetreterische Realpolitik verwandelt, macht sich wieder breit – wie früher in Moçambique und Angola, so später in Namibia und Südafrika. Derweil werden autokratische Regimes, deren korrupte Selbstbedienungspolitik der Westen zu bekämpfen vorgibt – Stichwort »Good Governance« (etwa: verantwortungsvolle Regierungsführung) –, in der Realität mehr als nur gutgeheißen. Wie in Zentralafrika und anderswo, im frankophil orientierten Westafrika sowieso, und – last but not least – in der staatlichen Neuschöpfung »Republik Südsudan«.

AU abserviert

Die AU hatte in Libyen und auch in Côte d’Ivoire auf eine friedliche Beilegung der Konflikte auf dem Verhandlungsweg gesetzt, nachdem Muammar Al-Ghaddafi und Laurent Gbagbo unter Druck geraten waren. Doch ließen sich die Protagonisten der alten Kolonialmächte – die Rebellenhaufen hier wie dort – nicht darauf ein. Dies wäre ohne westliche Billigung unmöglich gewesen. Die AU wurde auf internationalem Parkett kalt lächelnd abserviert. Gefoltert und ermordet der ehemalige Revolutionsführer von Tripolis, mißhandelt und gefangen der ehemalige Widerstandskämpfer von Abidjan.

Inzwischen wird Gbagbo in Den Haag – mit der drohenden Option einer späteren Anklage – vom Internationalen Strafgerichtshof wegen »Völkermords« angehört. Die bisher von ihm und Ghaddafi regierten Staaten befinden sich wieder unter westlicher Kontrolle, das Kräfteverhältnis auf dem Kontinent hat sich dramatisch verändert. Libyen fällt absehbar als potenter und entschiedener Unterstützer eines eigenständigen AU-Kurses aus. Ohne libysche Gelder stellte sich für die Union die Existenzfrage. Ansonsten könnte sich das Land politisch an die Seite Nigerias schlagen. Jonathan Goodluck, der Präsident des größten afrikanischen Ölstaats und bedeutendster US-Schößling auf dem Kontinent, macht zunehmend seinem südafrikanischen Amtskollegen Jacob Zuma, dem politischen und ökonomischen Schwergewicht unter den subsaharischen Staaten, die Führung strittig.

Blauhelme im Kongo

Zum bitteren Abschluß des Jahres schließlich hielt Kongo-Kinshasa, die bodenschatzreiche »Demokratische Republik« am Kongo-Fluß, »den Atem an« (allAfrica.com). Nach den unübersichtlichen Wahlen Ende November stehen sich zwei Gruppierungen, so scheint es, unversöhnlich gegenüber. Bürgerkriegsszenarien werden durchgespielt – und das, obwohl sich dort seit schon einem Dutzend Jahren die mit bis zu knapp 20000 Personen immer noch größte Blauhelmtruppe weltweit im Einsatz befindet. Grundsätzlich hat sich nach den innerafrikanischen Schlachten um die südöstlichen Kivu-Provinzen am Rand der Großen Seen zwischen 1996 und 2002 wenig getan. Sowohl bewaffnete Gruppen als auch Teile der schlecht besoldeten offiziellen Armee verbreiten Schrecken. Diamanten und Coltan werden über das benachbarte Kigali in Ruanda auf die Weltmärkte geschafft. Die UN-Mission Monusco sichert die zu deren Abbau benötigte Infrastruktur.

Bereits 2006 hatten die Blauhelme die Durchführung der Wahlen militärisch begleitet und kooexistierten dabei und danach bestens mit Präsident Joseph Kabila. Zukünftig, da dieser als proklamierter »Wahlsieger« mit einem ernstzunehmenden Gegner in Gestalt des ehemaligen Mobuto-Premiers und vorgeblich unterlegenen Etienne ­Tshisekedi dauerhaft konfrontiert sein könnte, würde sich der Charakter der UN-Mission weiter verändern – von einer vorgeblichen Schlichterin zu einer Art »Schutztruppe« neuen Typs.

Wie in Côte d’Ivoire: Dort stellten sich UN-Truppen offen gegen die eher antikoloniale Gbagbo-Bewegung. Gemeinsam mit den »Einhörnern« (Licorne), wie sich die postkoloniale Kampftruppe Frankreichs in Abidjan nennt, verhalf die UNOCI im März und April 2011 den aus dem Norden des Landes angreifenden Forces Nouvelles zum Sieg – einer Furcht und Schrecken verbreitenden Armee ehemaliger Putschisten um Premier Guillaume Soro und Alassane Ouattara.

Ouattara war unter dubiosen Umständen zum Sieger der Wahlen vom November 2010 erklärt und auf Drängen Frankreichs als solcher anerkannt worden. Der ehemalige, privatisierungserfahrene Spitzenfunktionär des Internationalen Währungsfonds steht nunmehr dem größten Kakaoproduzenten der Welt und bedeutendem Ölförderer in spe als Präsident vor. Das Land, das im Zuge eines mehrjährigen Friedensprozesses – mit den Wahlen als Höhepunkt – wiedervereint werden sollte, präsentiert sich heute zerrissener denn je, befindet sich allerdings inzwischen unter westlicher Dominanz. Die Opposition, erbost über die Verschleppung Gbagbos nach Den Haag, verweigerte sich der Parlamentswahl im Dezember und rief erfolgreich zu deren Boykott auf. Nur etwa 36 Prozent der Berechtigten sollen offiziellen Angaben zufolge ihre Stimme abgegeben haben. Nach dem Wahlverlauf – quasi im Ausnahmezustand – fragt niemand.

Moderne Kanonenboote

Entgegen aller Beteuerungen, seine Truppen in Afrika zu reduzieren, betätigte sich Frankreich 2011 kriegerisch wie lange nicht mehr. Die moderne Kanonenbootpolitik hat inzwischen Hochkonjunktur. Je größer die Finanzkrise, desto stärker die Aggressivität. Die militärische Karte wird so schnell wie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gezückt. Auch Deutschland zeigt häufiger sein militaristisches Gesicht – und sei es durch im Land oder auf Lizenz produzierte Waffen. Dabei ginge es, wird beteuert, um »deutsche Interessen«, also um geostrategischen Einfluß und um Rohstoffe.

Der Zweck heiligt die Mittel, lautet die Prämisse dieser Politik. Beschwörungen von »Demokratie« und »Menschenrechten« verkommen zu Worthülsen. Die internationale Konkurrenz ist riesig, und bei den »nationalen Interessen« endet die Predigt über Ethik und Moral. Wie Spott und Hohn klingt angesichts der Opfer die trotz alledem immer noch herbeibemühte Rechtfertigungsrhetorik – Stichwort »Schutz der Zivilbevölkerung«. Für die 13 Millionen infolge einer schweren Dürre Hungernden und Flüchtenden im Osten Afrikas – Äthiopien, Kenia, Somalia, Dschibuti – fehlt seit einem halben Jahr das Geld. Vom Tisch der Reichen fallen, wenn überhaupt, Spendenbrosamen.

Alles ist, wie es war. Das ölreiche Nigeria liegt auf dem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen, der nach Lebenserwartung, Bildungsstandard und Einkommen berechnet wird, auf Platz 142 – von 169 berücksichtigten Staaten. Das ölreiche Norwegen dagegen bildet die einsame Spitze. Ausnahmslos alle ehemaligen Kolonialmächte befinden sich unter den »hochentwickelten Staaten« – insgesamt 42. Zu den 52 als »nieder« eingestuften Ländern zählen 35 afrikanische. Auch das ist am Ende Spitze.

* Aus: junge Welt, 4. Januar 2012


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