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Wut in Kabul über ISAF-Razzia

NATO-Soldaten töteten erneut drei Kinder bei "versehentlichem" Angriff

In Kabul herrscht Empörung über eine mutmaßliche Fahndungsaktion der internationalen Truppen. Dabei seien vier Zivilisten getötet worden. *

Soldaten der NATO-Truppe ISAF in Afghanistan haben im Osten des Landes drei Kinder getötet und sieben weitere Zivilisten verletzt. Die Soldaten seien in der Provinz Paktika nahe der Grenze zu Pakistan angegriffen worden, teilte die ISAF am Montag (1. Sept.) mit. Als die NATO-Soldaten daraufhin ebenfalls das Feuer eröffneten, habe ein Artilleriegeschoss versehentlich ein Wohnhaus getroffen. Demnach wurden die Verletzten zur Behandlung in ein Militärkrankenhaus gebracht. Laut ISAF wurde eine Untersuchung eingeleitet, um die Umstände des Vorfalls zu klären.

In den vergangenen Wochen wurde den US-geführten Koalitionstruppen und der NATO immer wieder vorgeworfen, afghanische Zivilisten getötet zu haben. Erst in der vergangenen Woche waren bei einem US-Luftangriff in der westafghanischen Provinz Herat nach UN-Angaben 90 Zivilisten getötet worden, darunter 60 Kinder. Bei einem Zwischenfall an einer Straßensperre mit deutschen NATO-Soldaten wurden am Donnerstag drei Zivilisten, darunter zwei Kinder, erschossen.

Hunderte Afghanen sind in einem Vorort von Kabul aus Wut über die angebliche Tötung zweier Kleinkinder bei einer Razzia ausländischer Soldaten auf die Straße gegangen. Die Demonstranten zeigten Journalisten am Montag die blutigen Leichen der knapp zwei Jahre alten Kinder, die zusammen mit ihrem Vater und einer Frau bei einem Einsatz in den Morgenstunden erschossen worden sein sollen. »Ausländische Einheiten« hätten das Haus angegriffen, sagte Mohammed Naweed aus dem Ort Hoodchail der Nachrichtenagentur AFP. Die US-geführten Koalitionstruppen und die NATO bestritten, in den Vorfall verwickelt zu sein.

Naweed sagte weiter, dass die Soldaten das Eingangstor des Hauses aufgesprengt und das Feuer eröffnet hätten. Anschließend seien drei Männer abgeführt worden. Örtliche Fernsehsender zeigten Bilder von klagenden Frauen, die neben den Leichen standen und den Rücktritt von Präsident Hamid Karsai forderten.

Ein NATO-Sprecher sagte, es gebe keine Anzeichen, dass Soldaten der internationalen Afghanistan- Schutztruppe ISAF an dem Angriff beteiligt gewesen seien. Erst in der vergangenen Woche waren bei einem US-Luftangriff in der westafghanischen Provinz Herat nach UN-Angaben 90 Zivilisten getötet worden, darunter 60 Kinder. Afghanische und internationale Truppen töteten in der vergangenen Woche im Süden Afghanistans mehr als 220 Taliban-Kämpfer, wie die US-geführte Koalition am Sonntagabend erklärte.

* Aus: Neues Deutschland, 2. September 2008


Feuer frei am Hindukusch

Von Frank Brendle **

Am 1. September, dem Antikriegstag, ging das Morden in Afghanistan weiter. Soldaten der sogenannten NATO-Schutztruppe ISAF haben im Osten des Landes beim Artilleriebeschuß eines Hauses drei Kinder getötet. Sieben weitere Personen wurden verletzt. »Versehentlich«, wie das ISAF-Kommando verlauten ließ. Zu dem »Zwischenfall« im Bezirk Gajan der Provinz Paktika sei es gekommen, nachdem »Aufständische« eine Patrouille beschossen hätten. Ebenfalls am Montag protestierten Hunderte Menschen in Kabul gegen die Besatzer und zeigten Journalisten die Leichen zweier Kinder, die zusammen mit ihrem Vater und einer Frau bei einer Razzia getötet worden seien. In diesem Fall bestritt ISAF jegliche Verwicklung. Statt dessen werfen die Militärs den Taliban vor, eine »Propagandakampagne« zu führen, weil sie angeblich die Zahl der zivilen Opfer in die Höhe treiben. Bei einem Luftangriff vorige Woche seien nicht, wie von der UNO ermittelt, 90, sondern nur fünf Zivilisten ums Leben gekommen. Das will eine - garantiert unabhängige - Untersuchung des US-Militärs herausgefunden haben.

Unterdessen gerät die Bundeswehrführung weiter unter Druck. Möglicherweise haben die deutschen Soldaten, die vorige Woche an einem Kontrollpunkt beim nordafghanischen Kundus zwei Kinder und eine unbewaffnete Frau erschossen haben sollen, die Einsatzregeln der Truppe verletzt. Das meldete am Montag (1. Sept.) die Financial Times Deutschland (FTD). Die Bundesregierung wies die Vorwürfe zurück. FTD will »aus sicheren Quellen« erfahren haben, daß »ausschließlich deutsche Soldaten« die tödlichen Schüsse abgefeuert haben. Die Einsatzregeln sähen aber vor, daß bei gemeinsamen Aktionen von einheimischen und Besatzungstruppen die afghanische Seite das Kommando habe und demnach die Deutschen das Feuer nicht hätten eröffnen dürfen. Auf Flüchtende dürfe ohnehin nicht geschossen werden. Der verteidigungspolitische Sprecher der Fraktion Die Linke, Paul Schäfer, sagte gegenüber junge Welt, der Begriff der Selbstverteidigung werde »sehr weit« gefaßt. »Der brisanteste Punkt« sei, daß offenbar die Fenster des Fahrzeugs beschossen wurden. Vorgeschrieben sei es, auf die Reifen zu zielen. Angaben des afghanischen Provinzgouverneurs zufolge hatte das Auto sogar »umgedreht«, wurde also von hinten beschossen.

Das Verteidigungsministerium gab sich empört. Es verbiete sich, mit Spekulationen über Menschen in einer Ausnahmesituation zu richten. Der CSU-Staatssekretär im Verteidigungsministerium Christian Schmidt sagte der Passauer Neuen Presse, man könne »von keinem Soldaten verlangen, daß er in einer für ihn unüberschaubaren lebensbedrohenden Situation nicht reagiert«. Doch warum haben sich nur die deutschen, nicht aber die afghanischen Soldaten veranlaßt gesehen, scharf zu schießen? Eine mögliche Erklärung lieferte der Berliner Tagesspiegel: Nach seinen Recherchen waren unter den deutschen Soldaten auch freiwillig länger Wehrdienstleistende. Das sind Wehrpflichtige, die ihren neunmonatigen Grundwehrdienst um maximal 14 Monate verlängern. Die jungen Männer, die meist erst Anfang 20 sind und kaum militärische Erfahrung haben, waren möglicherweise überfordert. Bislang ist aber nicht gesichert, ob diese »Freiwilligen« oder Feldjäger geschossen haben.

Für das jüngste Opfer auf der eigenen Seite richtete die Bundeswehr gestern eine staatliche Trauerfeier aus. Am Sitz der Fallschirmjägerbrigade 263 in Zweibrücken behauptete Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU), der vorige Woche bei Kundus gefallene Hauptfeldwebel sei für den Wiederaufbau gestorben.

** Aus: junge Welt, 2. September 2008


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