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Afghanistan: Immer mehr Zivilisten als Opfer

UNO-Bericht dokumentiert Anstieg der Gewalt gegen Unbeteiligte vor allem durch Aufständische

Die Gewalt in Afghanistan richtet sich immer stärker gegen die Zivilbevölkerung. Das belegt ein Report der UNO.

Nach UNO-Angaben vom Dienstag (10. Aug.) wurden im ersten Halbjahr 2010 bei Kämpfen und Anschlägen in Afghanistan 25 Prozent mehr Zivilisten getötet als in den ersten sechs Monaten des Vorjahres, die Zahl der getöteten Kinder stieg sogar um 55 Prozent.

Von Januar bis Juni kamen am Hindukusch 1271 Zivilisten ums Leben, wie der UNO-Sondergesandte für Afghanistan, Staffan de Mistura, in Kabul mitteilte. Zudem seien 1997 Zivilisten durch Anschläge sowie Kämpfe zwischen Rebellen und afghanischen sowie ausländischen Truppen verletzt worden, viele davon schwer. »Wir sind sehr besorgt«, sagte de Mistura. Afghanische Kinder und Frauen trügen immer stärker die Hauptlast des Konflikts. »Sie werden in ihren Häusern und Dörfern mehr als je zuvor getötet und verletzt«, so der Sondergesandte. Der UNO-Erhebung zufolge sind Aufständische wie die Taliban für fast drei Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten verantwortlich. Die Zahl der Opfer der Rebellen stieg demnach im Vergleich zum ersten Halbjahr um 53 Prozent. Gezielte Attentate auf Zivilisten hätten sich im Vergleich zum ersten Halbjahr 2009 fast verdoppelt. Die Aufständischen würden immer ausgefeiltere Bomben herstellen, warnte de Mistura.

Bei den Einsätzen der internationalen Truppen kommen den Angaben zufolge dagegen immer weniger Zivilisten ums Leben. Die Zahl der bei Luftangriffen getöteten oder verletzten Zivilisten ging laut UNO sogar um 64 Prozent zurück. »Wir müssen weiter den Schwerpunkt darauf legen, den Verlust von unschuldigen zivilen Leben auf ein absolutes Minimum zu senken«, sagte der Oberbefehlshaber der NATO- und US-Einheiten am Hindukusch, General David Petraeus. Sein Vorgänger Stanley McChrystal hatte die Einsatzregeln in Afghanistan bereits deutlich verschärft, um die Zivilbevölkerung besser zu schützen.

Bei einem Selbstmordanschlag im Zentrum der afghanischen Hauptstadt Kabul sind am Dienstag (10. Aug.) die beiden Attentäter und zwei Fahrer einer privaten Sicherheitsfirma getötet worden. Ein weiterer Mitarbeiter der Sicherheitsfirma sei verletzt worden, hieß es.

Nach dem Mord an zehn Ärzten und Helfern in Nordafghanistan hat sich der Dachverband der in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen (ACBAR) besorgt über die Verschlechterung der Sicherheitslage geäußert. Alle Organisationen würden derzeit ihre Sicherheitsvorschriften überprüfen, sagte ACBAR-Direktor Laurent Saillard. Zu dem Überfall hatten sich die Taliban und die Islamistenorganisation Hisb-e-Islami bekannt.

Die Taliban haben ein auf dem Titel des US-Magazins »Time« erschienenes Foto einer verstümmelten Afghanin als »Propaganda« bezeichnet. Wie das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte Institut SITE mitteilte, wiesen die Taliban in einer Erklärung die Verantwortung für die Verstümmelung von sich. Die USA würden diese »Lügen« veröffentlichen, um von ihrer »klaren Niederlage« in Afghanistan abzulenken. »Time« hatte auf seinem Titelblatt das Bild der verstümmelten 18-jährigen Aischa mit der Frage »Was geschieht, wenn wir Afghanistan verlassen?« versehen. In dem Heft wurde das Martyrium der Afghanin geschildert, die mit einem Taliban in der südafghanischen Provinz Urusgan verheiratet war. Dieser habe ihr Nase und Ohren abgeschnitten, weil sie von Zuhause weggelaufen sei. Die Frau habe Schutz bei der US-Armee und der Organisation Frauen für afghanische Frauen gefunden. Aischa soll in den USA kostenlos operiert werden.

* Aus: Neues Deutschland, 11. August 2010


Immer mehr Kriegstote

Von Rüdiger Göbel **

Die NATO-Präsenz am Hindukusch kostet immer mehr Menschen das Leben. Im ersten Halbjahr dieses Jahres sind in Afghanistan 25 Prozent mehr Zivilisten getötet worden als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Das geht aus einem am Dienstag veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen hervor. Durch Kämpfe und Anschläge sind demnach 1271 Zivilisten getötet worden, darunter 176 Kinder. Zudem wurden 1997 Zivilisten, darunter 389 Kinder, durch Anschläge sowie Kämpfe zwischen Besatzungsgegnern und Besatzern verletzt, viele davon schwer.

Für 72 Prozent der Toten macht die UNO Aufständische verantwortlich. Im Vorjahr lag diese Zahl noch bei 58 Prozent. »Wenn sie die Zukunft Afghanistans mitgestalten wollen, können sie dabei nicht über die Leichen so vieler Zivilisten gehen«, sagte der UN-Sondergesandte für Afghanistan, Staffan De Mistura, gestern in Kabul. Den NATO-Besatzern und ihren einheimischen Verbündeten werden in dem UN-Report 223 Todesopfer zur Last gelegt. Damit wäre ihr Anteil von 31 auf 18 Prozent gefallen. Der Hauptgrund dafür sei die Reduzierung der Luftangriffe, schlußfolgern die Vereinten Nationen. Tatsächlich sind die Besatzungstruppen für alle Kriegstoten verantwortlich. Ihre neunjährige Präsenz führt zu immer stärkerem Widerstand. Mittlerweile sind allein die NATO-Truppen mit mehr als 800 Angriffen pro Woche konfrontiert.

In Reaktion auf den UN-Bericht erklärte Wolfgang Gehrcke, Sprecher für internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag: »Wer den Schutz der Zivilbevölkerung will, muß den Krieg beenden.« Angesichts der schockierenden Zahlen gingen die Schlußfolgerungen der Vereinten Nationen nicht weit genug. »Richtig ist zwar, daß sich die Kampfparteien an einen Kodex halten müssen, der das Leben der Zivilbevölkerung durch die Kampfhandlungen nicht in Mitleidenschaft zieht«, so Gehrcke. Notwendig sei aber eine grundlegende Friedensperspektive für Afghanistan. »Sie beginnt mit einem sofortigen Waffenstillstand, auf den ein Versöhnungsprozeß folgen muß, der ohne Abzug der ausländischen Truppen nicht möglich ist.« Es sei unverantwortlich, daß der Bundestag immer mehr deutsche Soldaten nach Afghanistan schickt, ohne über die Folgen seines Handelns Rechenschaft abzulegen, so der Linke-Politiker.

Unklar ist, bei wie vielen der im UN-Bericht genannten getöteten und verletzten »Zivilisten« es sich um Söldner handelt, die im Dienste von USA, NATO und afghanischer Regierung agieren. So wurde gestern in Kabul eine Einrichtung der britischen »Sicherheitsfirma« Hart attackiert. Bei der Nachrichtenagentur DAPD klang es nach einem willkürlichen Angriff: »Ein Selbstmordattentäter hat sich am Dienstag vor dem Eingang einer Pension in der afghanischen Hauptstadt Kabul in die Luft gesprengt und mindestens einen Menschen mit in den Tod gerissen.« Laut AFP wurden zwei Fahrer der Firma getötet und ein Wachmann verletzt. Mittlerweile stehen 40000 Menschen in Afghanistan im Sold »privater Sicherheitsdienstleister«. Afghanistans Präsident Hamid Karsai will die Söldnerfirmen auflösen lassen, wie sein Sprecher gestern mitteilte.

Familien der Opfer des von der Bundeswehr angeordneten Luftangriffs unweit von Kundus im Herbst vergangenen Jahres erhalten insgesamt rund 328000 Euro »Unterstützungsleistung«. Das Geld sei bei einer afghanischen Bank eingezahlt worden, ließ das Verteidigungsministerium am Dienstag in Berlin wissen. Die Familien von 102 Toten und überlebenden Verletzten erhalten den Angaben nach damit jeweils 5000 US-Dollar (umgerechnet etwa 3800 Euro).

** Aus: junge Welt, 11. August 2010


Afghan civilian casualties rise 31 per cent in first six months of 2010

10 August 2010 - Tactics of the Taliban and other Anti-Government Elements (AGEs) are behind a 31 per cent increase in conflict-related Afghan civilian casualties in the first six months of 2010 compared with the same period in 2009, the United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) said today in releasing its 2010 Mid-Year Report on Protection of Civilians in Armed Conflict.

Among those killed or injured by the Taliban and other AGEs were 55 per cent more children than in 2009, along with six per cent more women. Casualties attributed to Pro-Government Forces (PGF) fell 30 per cent during the same period, driven by a 64 per cent decline in deaths and injuries caused by aerial attacks.

“Afghan children and women are increasingly bearing the brunt of this conflict. They are being killed and injured in their homes and communities in greater numbers than ever before,” said Staffan de Mistura, Special Representative of the Secretary-General.

From 1 January to 30 June 2010, UNAMA Human Rights Unit documented 3,268 civilian casualties including 1,271 deaths and 1,997 injuries. AGEs were responsible for 2,477 casualties (76 per cent of all casualties, up 53 per cent from 2009) while 386 were attributed to PGF activities (12 per cent of all casualties, down 30 per cent from 2009).

Analysis by UNAMA Human Rights Unit identified two critical developments that increased harm to civilians in the first six months of 2010 compared to 2009: AGEs used a greater number of larger and more sophisticated improvised explosive devices (IEDs) throughout the country; and, the number of civilians assassinated and executed by AGEs rose by more than 95 per cent and included public executions of children.

“The devastating human impact of these events underscores that, nine years into the conflict, measures to protect Afghan civilians effectively and to minimize the impact of the conflict on basic human rights are more urgent than ever. All those concerned must do more to protect civilians and comply with their legal obligations not to attack civilians,” said Georgette Gagnon, Director of Human Rights for UNAMA.

IEDs and suicide attacks killed 557 Afghans and injured 1,137 in the first six months of 2010. IEDs alone accounted for 29 per cent of all civilian deaths in the period, including 74 children, a 155 per cent increase in IED-related deaths of children in the same span in 2009.

Aerial attacks by the International Security Assistance Force (ISAF) remained the most harmful PGF tactic, causing 69 of the 223 civilian deaths attributed to PGF in the first six months of 2010 (31 per cent) and injuring 45 Afghan civilians. However, civilian deaths caused by PGF aerial attacks decreased 64 per cent from the same period in 2009, reflecting growing implementation of ISAF’s July 2009 Tactical Directive regulating the use of air strikes and other measures to reduce civilian casualties.

On a regional basis, civilian casualties grew the most in southern Afghanistan in the first six months of 2010. More than half of assassinations and executions occurred in the southern region, where more than one hundred Afghan civilians were killed in such incidents. Overall, conflict-related civilian deaths in the south increased by 43 per cent. Civilians assassinated and executed included teachers, nurses, doctors, tribal elders, community leaders, provincial and district officials, other civilians including children, and civilians working for international military forces and international organizations.

“This intensified pattern of assassinations and executions reinforced the widespread perception of Afghan civilians that they are becoming more and more the primary target in this period of conflict,” said Staffan de Mistura, Special Representative of the Secretary-General.

Releasing the 2010 Mid-Year Report, UNAMA underscored the 7 July 2010 statement of the United Nations Secretary-General that stressed ensuring greater compliance with international law by all concerned remains a “huge common challenge” in Afghanistan. Basic human rights and international humanitarian law principles of distinction, proportionality and precaution that apply to all parties to an armed conflict, requiring them to minimize civilian loss of life and injury must be reinforced at this critical period.

UNAMA Human Rights Unit issued recommendations in the report including:
  • The Taliban should withdraw all orders and statements calling for the killing of civilians; and, the Taliban and other AGEs should end the use of IEDs and suicide attacks, comply with international humanitarian law, cease acts of intimidation and killing including assassination, execution and abduction, fully respect citizens’ freedom of movement and stop using civilians as human shields.
  • International military forces should make more transparent their investigation and reporting on civilian casualties including on accountability; maintain and strengthen directives restricting aerial attacks and the use of night raids; coordinate investigation and reporting of civilian casualties with the Afghan Government to improve protection and accountability; improve compensation processes; and, improve transparency around any harm to civilians caused by Special Forces operations.
  • The Afghan Government should create a public body to lead its response to major civilian casualty incidents and its interaction with international military forces and other key actors, ensure investigations include forensic components, ensure transparent and timely compensation to victims; and, improve accountability including discipline or prosecution for any Afghan National Security Forces personnel who unlawfully cause death or injury to civilians or otherwise violate the rights of Afghan citizens.
Source: UNAMA-United Nations Assistance Mission in Afghanistan, 10 August 2010; http://unama.unmissions.org

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