Im Fadenkreuz des Pentagon
WikiLeaks berichtete über US-Militäreinsätze – und steht nun unter Beschuss aus Washington
Von Dago Langhans *
Spätestens seit der Veröffentlichung von 92 000 Seiten geheimer, interner militärischer
Aufklärungsberichte und Lageeinschätzungen Ende Juli ist die Internet-Plattform WikiLeaks
international ins Rampenlicht gerückt. Der besondere Coup der Internet-Aktivisten bestand diesmal
darin, den Mediengiganten »Spiegel«, »Guardian« und »New York Times« das Datenmaterial zum
Afghanistan-Krieg vier Wochen lang zur Auswertung zu überlassen und mit ihnen einen
gemeinsamen Veröffentlichungstermin zu vereinbaren.
Anfang April hatte WikiLeaks bereits ein US-Militärvideo, gefilmt aus einem Apache-
Kampfhubschrauber, ins Netz gestellt, das die willkürliche Ermordung eines Dutzends Iraker
dokumentiert, darunter zwei Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters. Ende Juni wurde dieser
Film mehr als sieben Millionen Mal bei YouTube von Nutzern abgerufen.
Drei ehemalige Stabsgefreite, die unmittelbar nach dem gefilmten Vorfall vom 12. Juli 2007 in Ost-
Bagdad waren, bestätigten nun vor dem Hintergrund der jüngsten WikiLeaks-Veröffentlichungen
gegenüber der linksliberalen US-Wochenzeitung »Nation«, dass es sich bei diesem Einsatz in
Bagdad keineswegs um einen Einzelfall gehandelt habe, sondern dass der dokumentierte Luftangriff
auf Zivilisten dem Standardvorgehen der US-Streitkräfte entspricht.
»Ich denke, wir sollten in diesen Ländern keinen Krieg führen. Das ist ein Krieg der Aggression und
der Eroberung. Für mich gibt es keinerlei Rechtfertigung für diesen Krieg«, erklärte der frühere
Stabsgefreite Ethal McCord den Journalisten der »Nation«. Er war in eine der gefürchteten
Sprengfallen geraten und erlitt dabei schwerwiegende Wirbelsäulen- und Hirnverletzungen. Zudem
leidet er als Kriegsveteran unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Er und seine beiden
Kameraden sind über die angeblich hehren Ziele der US-amerikanischen »Sicherheitspolitik«
gründlich desillusioniert. Während die Enthüllungen von WikiLeaks für das Weiße Haus und das
Pentagon »gefährliche Sicherheitsrisiken« und eine »direkte Bedrohung für unsere Einheiten,
Afghanen und Koalitionstruppen« darstellen, bestätigen die Veröffentlichungen nach Ansicht des
ehemaligen Soldaten, »was Ethan, Ray, ich und viele Veteranen erlebt und schon immer gesagt
haben«.
Eine Untersuchung des Kampfeinsatzes gegen Zivilisten verlief im Sande. Angeblich – so »Nation«
– habe »das Vorgehen den gesetzlichen Vorschriften entsprochen« und »keine wesentlichen
Irrtümer oder Verletzungen von zentralen Persönlichkeitsrechten aufgewiesen«. Stattdessen haben
die US-Sicherheitsbehörden inzwischen einen Hauptverdächtigen ermittelt, dem unter anderem
vorgeworfen wird, besagtes Video an WikiLeaks weitergegeben zu haben. Presseberichten zufolge
wurde der Militärauswerter Bradley Manning bereits Ende Mai in Bagdad festgenommen und im Juli
von der Militärstaatsanwaltschaft angeklagt.
Nach vorübergehender Haft in Kuwait wurde der 22-jährige Obergefreite schließlich in das
berüchtigte Militärgefängnis des Stützpunkts der Marineinfanterie in Quantico (Virginia) verlegt. Dort
wird er von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Ein immer größer werdendes Bündnis von
Kriegsdienstgegnern, ehemaligen Soldaten und Einzelpersonen kämpft seitdem darum, Geld für
einen Zivilanwalt zu beschaffen, der als Ergänzung zum obligatorischen Militäranwalt die Rechte des
angeklagten Soldaten im Militärstrafverfahren vertreten soll. Manning drohen nach dem 1917
beschlossenen Spionagegesetz bis zu 52 Jahre Haft. Die Aktivisten von Courage to Resist, den Iraq
Veterans against the War (IVAW) und Veterans for Peace hoffen auf internationale Unterstützung
und die Hilfe der Internetplattform WikiLeaks.
Dass der Militäreinsatz der internationalen Truppen in Afghanistan in den USA so unpopulär wie nie
zuvor ist, liegt zu einem kleinen Teil sicher auch an den Veröffentlichungen von WikiLeaks. Laut
einer am Dienstag veröffentlichten Umfrage des Instituts Gallup und der Zeitung »USA Today« sind
43 Prozent der Befragten der Meinung, der Beginn des Einsatzes in Afghanistan nach den
Terroranschlägen vom 11. September 2001 sei ein »Fehler« gewesen. Ende 2008, kurz nach der
Wahl Barack Obamas zum Präsidenten, waren nur 28 Prozent der Bürger dieser Meinung.
Allerdings bläst dem Enthüllungsportal WikiLeaks mittlerweile ein heftiger Wind entgegen. USVerteidigungsminister
Robert Gates bekräftigte am Wochenende nochmals, er wolle entschlossen
und »aggressiv« nach undichten Stellen im Pentagon suchen; Generalstabschef Michael Mullen
warf WikiLeaks-Mitbegründer Julian Assange vor, er gefährde die Sicherheit anderer Menschen,
»um seine eigene Meinung deutlich zu machen«.
Der WikiLeaks-Mitarbeiter Jacob Appelbaum wurde bei seiner Rückreise in die USA mehrere
Stunden von Sicherheitsbeamten in Gewahrsam genommen und verhört. Handy und Laptop wurden
währenddessen konfisziert. Marc A. Thiessen, Kolumnist der »Washington Post«, verlangte gar die
Auflösung der gesamten Organisation der Website, die Zerschlagung des Datensystems und
notwendigerweise die Verhaftung Assanges, der sich im Ausland aufhält. Es wäre nicht das erste
Mal, dass Assange festgesetzt würde. Der in Australien geborene Physiker, der unter anderem in
China, Iran, den USA und Großbritannien arbeitete, wurde wiederholt ausspioniert und verhaftet.
Die Veröffentlichung der Papiere hatte Assange in der vergangenen Woche gegenüber der
britischen »Times« als »äußerst wichtig in der Geschichte dieses Krieges« bezeichnet. Zudem habe
sich WikiLeaks vor der Verbreitung der Dokumente an das Weiße Haus gewandt, um »die Gefahr so
gering wie möglich zu halten, dass unschuldige Informanten namentlich genannt werden«. Jedoch
habe man keine Antwort erhalten.
Die Reaktionen von Pentagon und Weißem Haus auf die jüngsten Enthüllungen waren absehbar. Aber die Taliban dürften wissen, wo sie angegriffen haben oder ihre Anführer gezielt getötet wurden.
Der afghanischen Landbevölkerung ist ebenso klar, wann welche Hochzeitsgesellschaften oder
Dorfversammlungen bombardiert wurden. Und den pakistanischen Geheimdiensten ist traditionell
die wechselhafte Unterstützung aller beteiligten Kriegsparteien bekannt. Die wirklich neue Qualität
der WikiLeaks-Veröffentlichungen ist die bewusste Überschreitung des »eingebetteten«
Kriegsjournalismus. Und dieser Gefahr versucht man nun mit »eiserner Ferse« entgegenzutreten.
* Aus: Neues Deutschland, 5. August 2010
Staatsfeind des Tages: Wikileaks **
Die Veröffentlichung Zehntausender Dokumente zum Afghanistan-Krieg durch
das Internetportal Wikileaks löste in Washington einen kollektiven
Wutschrei aus. Der Präsident setzte seinen Verteidigungsminister und das
FBI in Marsch, der republikanische Kongreßabgeordnete Mike Rogers
forderte die Todesstrafe für den inhaftierten Gefreiten Bradley Manning,
der verdächtigt wird, die Dateien an Wikileaks geliefert zu haben. In
der Washington Post verlangte ein Redenschreiber des früheren
Präsidenten George W. Bush und dessen Verteidigungsministers Donald
Rumsfeld von den Geheimdiensten der NATO-Staaten, die Wikileaks-Leute zu
suchen und zu verhaften. Da wurde ein Nerv getroffen. Anlaß für das
Gebell ist aber offenbar nicht nur das Datenleck. Das legt ein Artikel
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Mittwoch unter dem Titel
»Erstaunliche Wendung in Sachen Wikileaks« nahe. Der Autor schildert
darin, wie es gelang, Manning zu identifizieren. Nach bisheriger
Darstellung, soll Manning jemanden im Internet gesucht haben, dem er
»beichten« könne und den er ihn in dem »Ex-Hacker« Adrian Lamo gefunden
hätte. Der wiederum habe ihn angezeigt. Nun stellt sich nach einem
Bericht des US-Magazins Forbes heraus, daß Lamo ein
Sicherheitsspezialist ist, der für das geheime »Project Vigilant«
arbeitet. Das sei »mit Spenden aus der Wirtschaft« gegründet worden von
einem Herrn, der zuvor neun Jahre lang die »Internet Crime Unit« des
US-Justizministeriums geleitet hatte. Man arbeite dem Militär, dem FBI
und der NSA, der größten Schnüffelbehörde der USA, zu. Laut Forbes
speichern die Vigilant-Spezialisten täglich die Internetaktivitäten an
mehr als 250 Millionen Computern. Lamo, so brüstete sich nun dessen
Chef, sei gezielt auf Manning angesetzt worden. Die FAZ resümiert:
»Stimmen die Angaben, werden amerikanische Bürger in größerem Stil
überwacht als bisher angenommen.« Hinzuzufügen wäre: Und nicht nur
US-Bürger.
(asc)
** Aus: junge Welt, 5. August 2010
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