Am Hindukusch: Staat ohne Land oder Land ohne Staat
Gibt es wirklich keine Alternative zur Stationierung deutscher Militärs in Afghanistan?
Von Hans Wallow *
Donnernd bricht sich das Echo der »Mittagskanone« in den Bergen rund um Kabul, der Hauptstadt
Afghanistans. Täglich wird sie um zwölf Uhr mittags von einer Schanze der alten
Befestigungsanlagen im Südwesten der Stadt als Zeitmerkmal abgeschossen. Mit den Schüssen
aus diesem friedli-chen Geschütz beendet jeden Mittwoch eine Arbeitsgruppe im afghanischen
Planungsministerium ihre Sitzung. Unter Vorsitz des afghanischen Planungsministers Abdullah
Yaftal beraten der Leiter der sowjetischen Beratungsgruppe Wladimir Chupitsch, der Leiter der USamerikanischen
Landwirtschaftsexperten, Dr. Richard Saunders, und der Leiter der deutschen
volkswirtschaftlichen Beratungsgruppe, Dr. Heinz Klose, gemeinsam über Probleme, die sich aus
ihrer Arbeit für die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans ergeben. Die drei Experten sind offizielle
Berater, die von ihren Regierungen entsandt wurden. Existenz und Aufgaben dieser Gruppe sind in
der Welt einmalig.
So war es 1969, mitten im »Kalten Krieg«, als Afghanistan zu den »blockfreien Staaten« gehörte
und die Regierung nach außen mehr Autorität besaß als im Lande selbst.
Heute ist das Land unter den Augen des größten Militärbündnisse der Welt der bedeutendste
Opiumlieferant, ein Land, in dem Lehrer ermordet werden, weil sie Mädchen unterrichten, ein Land,
in dem die Blutrache tägliche Praxis ist, ein Land ohne staatliche Infrastruktur, mit einer Regierung,
die zumindest auf dem Lande keinerlei Autorität genießt.
Kein einigendes nationales Band
Um die gegenwärtige Situation zu erklären, ist der Blick zurück notwendig. Auch zur Zeit der
konstitutionellen Monarchie unter König Zahir Schah gab es in Afghanistan mit seinen ca. 27
Millionen Einwohnern über 30 ethnische Gruppen, die nur fragile oder punktuelle staatliche
Strukturen zuließen. Hauptsächlich solche, die in ihrem eigenen Interesse lagen. Die wichtigsten
Völker – Paschtunen, Tad-shiken, Usbeken und Hazras – rivalisieren traditionell seit der
Staatsgründung durch die imperialistischen Mächte England und Russland im 19. Jahrhundert
miteinander. Seit dieser Zeit betrachten die Stammesführer den Staat mit seinen zentralen
Einrichtungen als unerschöpfliche Pfründe. Ob Mudschaheddin, Taliban oder die jetzige Regierung
an der Macht sind – höhere staatliche Ämter werden immer an Gefolgsleute wegen besonderer
Loyalität vergeben. Auch der Islam, dem 99 Prozent der Afghanen anhängen, stellt aufgrund der
zahlreichen Strömungen oder animistischen Auffassungen kein einigendes nationales Band dar.
Da insbesondere die Landbevölkerung keine guten Erfahrungen mit den Zentralregierungen
verbindet, gilt ihre Loyalität immer noch dem schützenden Stamm. Die Stämme schließen sich
zusammen, sobald sie sich von außen bedroht fühlen. In der Dschirga, der Stammesversammlung,
und in der Loya Dschirga, der großen Versammlung aller Repräsentanten der Stämme, werden
Konflikte diskutiert. Keine Regierung bisher konnte oder wollte aber auch nur die elementarsten
Bedürfnisse der Menschen, zum Beispiel die Alphabetisierung (96 Prozent sind Analphabeten),
durchsetzen. Eine schulisch vorgebildete junge Frau gilt in Afghanistan nicht nur bei den Männern
als zu liberal und damit nicht heiratsfähig.
Nach einer verheerenden Hungersnot als Folge einer Dürreperiode in den Jahren 1971/72
vergrößerten sich die ohnehin schon riesigen Staatsdefizite. Nahezu zwangsläufig putschten am 17.
Juli 1973 die der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) angehörenden Offiziere gegen
die Monarchie. Sie brachten den Vetter des Königs, Mohammed Daud, an die Macht. Die Mitglieder
dieser Partei stammten hauptsächlich aus dem städtisch-kleinbürgerlichen Intellektuellenmilieu. Sie
hatten kaum vage Vorstellungen von linken Theorien, wurden aber von ihren Gegnern sofort als
Kommunisten abgestempelt. Daud verließ in der Außenpolitik die Linie der Blockfreiheit und
entfernte die sogenannten »Linken« aus wichtigen Positionen im Regierungsapparat. Gegenüber
der DVPA ging er zur offenen Repression über. Nachdem sich über Nacht das Gerücht verbreitet
hatte, dass Teile der DVPA-Führung liquidiert werden sollten, kam es zu einem erfolgreichen
militärischen Putsch gegen das Daud-Regime.
Am 27. April 1978 übernahm die Partei die Regierung. Staats- und Regierungschef wurde Nur
Mohammad Taraki, stellvertretender Ministerpräsident der spätere Staatschef Babrak Karmal. Mit
sofort eingeleiteten radikalen Reformmaßnahmen wie einer Bodenreform, der Regelung von Eheund
Scheidungsangelegenheiten und einem Programm zur Alphabetisierung versuchte man, die
feudalen und halbfeudalen Strukturen zu durchbrechen. Dazu der heute im Exil lebende und an der
Marburger Universität lehrende Afghane Dr. Matin Baraki: »Bei der Bodenreform unterliefen den
Verantwortlichen gravierende Fehler. Die Bauern waren weder politisch noch materiell darauf
vorbereitet worden. Die Stammesstrukturen und die Rolle der Geistlichkeit ignorierte man
schlichtweg; nicht selten waren die Großgrundbesitzer zugleich Stammes- bzw. geistliche Führer,
was eine Aufteilung des Landes an Stammesmitglieder nicht eben erleichterte.«
Die Radikalität der Reformversuche, Parteinepotismus und der Mangel an sensibler Konsenssuche
mit anderen national denkenden demokratischen Kräften führten zum Erstarken der
Regierungsgegner. Die sogenannten Mudscha-heddin griffen zu den Waffen und eroberten einige
Landstriche. Ab März 1979 bat die Regierung in Kabul nach Artikel 4 des afghanisch-sowjetischen
Freundschaftsvertrages Moskau insgesamt 21 Mal um Militärhilfe und Truppenentsendung. Der
darauf folgende, im Küchenkabinett Leonid Breshnews beschlossene Einmarsch russischer Truppen
war die größte politische Fehlentscheidung der sowjetischen und der afghanischen Regierung. Denn
fortan wurde der bis dahin innerafghanische Konflikt durch die geopolitische Lage des Landes
internationalisiert.
Und wieder lockt das Öl
Blindwütig, ja pathologisch, wie die USA-Regierung auf alles reagierte, was nach Kommunismus
riecht, hatten Washington und seine regionalen Verbündeten bereits vor dem Einmarsch der
Truppen der UdSSR die Gegner der afghanischen Regierung, darunter die Mudschaheddin,
militärisch unterstützt. Der ehemalige CIA-Direktor Robert Gates berichtete in seinen Memoiren:
»Und an diesem Tage (3. Juli 1979) habe ich dem Präsidenten eine Notiz geschrieben, in der ich
ihm erklärte, dass meiner Ansicht nach diese Hilfe ei-ne militärische Intervention der Sowjets zur
Folge haben würde.« Und weiter: »Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir
haben die Möglichkeit, dass sie es tun, wissentlich erhöht.«
Unter der Regie der CIA und des pakistanischen Militärgeheimdienstes wurden die afghanischen
Islamisten nach den Vorgaben des Antiguerillahandbuchs der CIA zu Kämpfern gegen die
afghanische und die sowjetische Armee ausgebildet. Trotz der massiven Unterstützung durch die
USA gelang es den Mudschaheddin jedoch nicht, die Städte zu erobern. Erst am 25. April 1992 –
drei Jahre nach Abzug des letzten sowjetischen Soldaten – wurde Kabul kampflos übergeben. Ein
gemäßigter Islamist, Sibghatullah Mojaddedi, wurde erster Präsident des Islamischen Staates
Afghanistan.
Der von den Menschen sehnlichst erhoffte Friede kehrte nicht ein. Die Sieger kämpften
gegeneinander und gegen die »Ungläubigen« im eigenen Volk. Eine Fraktion der Islamisten bildete
die Taliban, die hauptsächlich in den pakistanischen Flüchtlingslagern lebten. Zu dem Entschluss,
die Tali-ban als eigenständige militärische Einheit im afghanischen Bürgerkrieg einzusetzen, trugen
unter anderem die Regierungen der USA, Pakistans und Saudi-Arabiens bei. Das Motiv war ein
Pipeline-Projekt, mit dem Öl und Gas aus Mittelasien über Afghanistan zum Indischen Ozean
transportiert werden sollte. Denn die Mudschaheddin-Regierung hatte das Versprechen, dieses
Projekt zu fördern, nicht eingehalten.
Unter Afghanistan-Experten ist es kein Geheimnis, dass an den folgenden militärischen Erfolgen
reguläre pakistanische Truppen beteiligt waren. Als die Taliban am 27. September 1996 Kabul
einnahmen, kündigte die USA-Regierung die sofortige Anerkennung und Hilfe an.
Aber auch der Taliban-Regierung gelang es nicht, die Sicherheit beim Bau der Ölpipeline vom
turkmenischen Daulat Abach durch Afghanistan nach Moltan in Pakistan zu garantieren. Die Unacal
Corporation, Mehrheitsteilhaber des amerikanisch-saudischen Ölkonzerns »Centgas«, musste das
Projekt 1998 wegen der schlechten Sicherheitslage auf Eis legen. Aus den Verbündeten wurden
Feinde, aus den einstigen »islamischen Freiheitskämpfern« wurden »Terroristen«. Nach dem 11.
September, dem Angriff auf das World Trade Center in New York, stiegen die Taliban und Bin
Ladens Al Qaida zum Feind Nr. 1 der USA auf. »Wer eine Schlange in seinem Ärmel hausen lässt,
wird eines Tages von ihr gebissen«, lautet ein afghanisches Sprichwort.
Militärprotektorat der NATO und der USA
Aber offensichtlich haben die USA aus dem Trümmerhaufen ihrer kurzsichtigen Außenpolitik nichts
gelernt. Denn im Gegensatz zur deutschen Bundesregierung, die mit ihrem Sieben-Punkte-Plan bei
der Petersbergkonferenz ein breites nationales Bündnis für Afghanistan organisieren wollte, setzten
sich die USA mit Hilfe ihrer »US-Afghanen« auf bekannt rüde Weise durch. Der von Außenminister
Josef Fischer gefeierte deutsche Erfolg war nichts weiter als das übliche Public-Relations-
Blendwerk. Die heutige afghanische Regierung besteht zur Hälfte aus »US-Afghanen«, einigen Euro-Afghanen, einem Warlord und einem Heroinbaron.
Nicht nur die Afghanen, auch viele Entwicklungshelfer empfinden Afghanistan heute als ein
Militärprotektorat der NATO und der USA, das in Besatzungszonen aufgeteilt ist. Die Deutschen, die
sich seit 1958 durch effiziente Entwicklungspolitik besonders auf dem Lande Respekt erworben
hatten, sind dabei, diesen Kredit wieder zu verspielen. Denn die Bundeswehr, die sich mit 2900
Soldatinnen und Soldaten mit dem Argument, Entwicklungshelfer zu schützen, in Kundus im Norden
von Afghanistan eingeigelt hat, verbringt 90 Prozent ihrer Zeit damit, sich zu versorgen und zu
schützen. Der Regionalbeauftragte der Deutschen Welthungerhilfe für Afghanistan, Theo Riedke,
sagt: »Nach unseren Sicherheitsrichtlinien halten wir uns von den Soldaten fern. Die deutsche
Presse stellt das nahezu auf den Kopf«. So verhalten sich auch die meisten der im Auftrag der
Bundesregierung arbeitenden Experten der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Die
Bundeswehrführung ist der Auffassung, dass »Flagge zeigen«, also die öffentliche
Machtdemonstration, die Anwesenheit deutscher Truppen in Afghanistan allein schon rechtfertige.
Keine durchschlagende Begründung an-gesichts der Tatsache, dass dafür bisher 18 junge
Menschen starben und 41 verwundet wurden. Aber der jetzige Verteidigungsminister Franz Josef
Jung will allen weltweit Gefallenen ein Denkmal spendieren. Auch der deutsche Steuerzahler musste
für diesen Militäreinsatz, dessen Sinn sich vor Ort keinem Menschen erschließt, 1,864 Milliarden
Euro entrichten.
Als »absolut absurd« beurteilt der Staatssekretär im Entwicklungsministerium Erich Stater die
Forderung von CDU-Hinterbänklern, für die Bundeswehr am Hindukusch Haushaltsmittel aus dem
Entwicklungsetat bereitzustellen. In der Entwicklungshilfe liegt Deutschland vor den USA seit 1958
an der Spitze der Geberländer. Von diesem Zeitpunkt bis 1999 zahlte Deutschland für Afghanistan
585,762 Millionen Euro. Von 2002 bis 2006 wurde das Land mit 448,3 Millionen Euro unterstützt.
Nach Ansicht der Entwicklungshelfer aus Nichtregierungsorganisationen (NGO) kommt davon in der
Bevölkerung viel zu wenig an. Karl Riedke von der Welthungerhilfe: »Es fehlt am ausgebildeten
Mittelbau in den Ministerien, an rechtsstaatlichen Strukturen in der Polizei und der Justiz. In 2500
NGO werden 80 Prozent aller öffentlichen Dienstleistungen aufrechterhalten. So ist keine
nachhaltige Entwicklungspolitik möglich.« Seine Kollegin Johanna Gassmann hat sich auch einen
selbstkritischen Blick bewahrt, indem sie sagt: »Beamte, Warlords und wir Entwicklungshelfer
können sich Konsum leisten. Afghanen fast nichts. Seit 2001 sprießen außerdem in Kabul die
Bordelle wie die Pilze aus dem Boden. Das löst bei vielen Frauen Hass auf alle Fremden aus.«
Wichtige Fachkräfte arbeiten im Ausland
Anlässlich der Verlängerung des Afghanistan-Mandats um ein Jahr am 28. September 2006 im
Deutschen Bundestag hörte man aus allen Fraktionen, zur Stationierung des Militärs gebe es »keine
Alternative«. Es gibt immer welche. Die einzigen Kräfte, die das Land konsolidieren und führen
könnten, sind jene bürgerlich-technokratischen Experten, die Berufs- und Regierungserfahrung
besitzen und zu den Millionen von Flüchtlingen gehören, die in den USA sowie in zahlreichen
Ländern Europas leben. Allein in Deutschland leben 70 000 Bürgerkriegsflüchtlinge mit
unterschiedlichem Rechtsstatus, die sich nach Aussagen des BMZ »erfolgreich« integriert haben.
Viele von ihnen sind schon deutsche Staatsbürger.
Im Rahmen des Reintegrationssonderprogramms für Afghanistan REA (Return to Employment in
Afghanistan) sind laut Ministerium seit Beginn des Programms 2002 bis Juni 2006 nur insgesamt
2730 Rückkehrer beraten und vermittelt worden. Davon haben 2395 eine finanzielle Förderung für
die Arbeitsaufnahme in Afghanistan erhalten. Das Programm war bis jetzt ein Flop. Man muss wohl
umdenken und die Finanzen, statt sie in sinnlosen Militäroptionen zu verpulvern, gemeinsam mit den
Europäern in derartige zivile Programme investieren.
Afghanistan hätte eine Chance, wenn es gelänge, unter Berücksichtigung aller ethnischen
Großgruppen eine zivile, nicht von außen fremdbestimmte Administration auf breiter Basis zu bilden.
Und denjenigen, denen der schnöde Mammon zuwider ist, hilft vielleicht die Erfahrung der Brecht-Preisträgerin Dea Lohea, die in Kabul gemeinsam mit Afghanen arbeitete: »Ich will niemanden dazu
aufrufen, sich in Gefahr zu bringen. Nach dem, was ich erzählt habe, mag es naiv und utopisch
erscheinen, und dennoch: Die Arbeit mit afghanischen Studenten, der Austausch mit
Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen ist eine der wenigen Mög-lichkeiten, das Land aus
der Isolation zu nehmen.«
* Aus: Neues Deutschland, 15. September 2007
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