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"Sorgen über die Qualität der Wahl"

Votum zum afghanischen Parlament von Gewalt und Unregelmäßigkeiten überschattet *

Nach der Parlamentswahl in Afghanistan haben unabhängige Wahlbeobachter massive Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung kritisiert.

An der Parlamentswahl beteiligten sich nach vorläufigen Angaben rund 40 Prozent der Stimmberechtigten. Die geschätzte Zahl der Stimmberechtigten war vor der Wahl um zwei Millionen auf 10,5 Millionen nach unten korrigiert worden, was die prozentuale Beteiligung erhöht.

Die »Free and Fair Election Foundation of Afghanistan« (FEFA), die die meisten Wahlbeobachter stellte, äußerte am Wochenende »ernste Sorgen über die Qualität der Wahl«. Unsicherheit und Gewalt hätten den Wahlprozess in großen Teilen des Landes geprägt. Die Unabhängige Wahlkommission (IEC) will erst am 30. Oktober ein amtliches Endergebnis verkünden.

Bei der Parlamentswahl waren bei Anschlägen und Gefechten nach Regierungs- und Militärangaben mindestens 46 Menschen getötet worden, darunter zahlreiche Aufständische, aber auch elf Zivilisten. Die Wahlkommission sprach am Sonntag (19. Sep.) sogar von 21 getöteten Zivilisten. Drei IEC-Mitarbeiter, die am Wahltag von mutmaßlichen Aufständischen entführt worden waren, wurden ermordet. Vier Soldaten der Internationalen Schutztruppe ISAF wurden am Sonnabend getötet.

Nach Regierungsangaben kam es am Wahltag (18. Sep.) zu mehr als 300 gewaltsamen Zwischenfällen – weniger als bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr. Bei dieser Abstimmung am 20. August 2009 waren 422 Anschläge und Angriffe verübt worden, die damals mehr als 50 Menschen das Leben kosteten.

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon lobte den Mut und die Entschlossenheit der afghanischen Wähler. Auch NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zollte den Afghanen Respekt, weil sie trotz der Gewalt zur Wahl gegangen seien. Er lobte den Einsatz der ISAF, die mit für den Schutz der Wahl gesorgt hatte.

Die FEFA hatte am Sonnabend (18. Sep.) nach eigenen Angaben landesweit rund 7000 Beobachter im Einsatz. Sie teilte mit, an mindestens 389 der 5335 Wahllokale hätten Beobachter »ernsthafte Sicherheitsvorfälle« registriert. In mehreren Provinzen seien Wahllokale von Aufständischen gesprengt oder in ihre Gewalt gebracht worden. Kandidaten hätten Wähler bedroht. Regierungsbeamte hätten »in einer besorgniserregenden Anzahl von Fällen« zum Wohl bestimmter Kandidaten in den Wahlprozess eingegriffen. Die FEFA berichtete außerdem über die Abgabe falscher Stimmen in den meisten Provinzen. In vielen Fällen habe die nicht-abwaschbare Tinte abgerieben werden können, mit der Fingernägel markiert wurden, um mehrfache Stimmabgaben zu verhindern. Viele Wahllokale hätten vor dem offiziellen Wahlende geschlossen, obwohl noch Wähler angestanden hätten. Bereits bei der Präsidentschaftswahl 2009 war es zu massivem Betrug gekommen, den Wahlbeobachter vor allem dem Lager von Amtsinhaber Hamid Karsai angelastet hatten.

Ein Schwerpunkt der Gewalt war am Sonnabend der nordafghanische Verantwortungsbereich der Bundeswehr. Die ISAF teilte am Sonntag mit, einer ihrer Soldaten sei dort am Wahltag bei einem Angriff Aufständischer ums Leben gekommen. Die Schutztruppe machte keine Angaben zur Nationalität des Toten. Ein Bundeswehr-Sprecher sagte, es habe sich nicht um einen Deutschen gehandelt. Er dementierte Angaben des Gouverneurs der nordafghanischen Provinz Kundus, wonach die Bundeswehr am Wahltag die Panzerhaubitze 2000 gegen Aufständische einsetzte. Allerdings hätten Soldaten der Nationalarmee in der Gegend Mörser eingesetzt. Bei der Explosion einer Rakete in Kundus wurden am Sonntag nach Angaben der örtlichen Regierung acht Kinder getötet.

* Aus: Neues Deutschland, 20. September 2010


Blutige Abstimmung

Parlamentswahl in Afghanistan: Nur jeder Dritte gab seine Stimme ab

Von Thomas Berger **


Weder friedlich noch ohne Skandale sind die afghanischen Parlamentswahlen am Sonnabend über die Bühne gegangen. Zwar blieben die registrierten Störungen durch Aufständische zahlenmäßig hinter denen bei der Präsidentschaftswahl vor rund einem Jahr zurück. Die vorläufige Bilanz der Abstimmung kann aber keineswegs als Erfolg eingestuft werden, auch wenn sowohl die Regierung in Kabul als auch der Westen diese so darzustellen versuchen. Mehr als jedes siebte Wahllokal öffnete gar nicht erst, 1019 von 6835 blieben aus Sicherheitsgründen geschlossen, und von den verbleibenden öffneten einige auch erst verspätet.

Waren schon im Vorfeld mindestens zwei Kandidaten und noch mehr Wahlkampfhelfer ermordet worden, so kamen am Wahltag selbst mindestens zehn Menschen ums Leben. Die Nachrichtenagentur Reuters sprach unter Berufung auf das Innenministerium in Kabul von elf Zivilisten sowie drei Polizeiangehörigen. Sie starben teilweise auch bei den Mörserangriffen, die seit den frühen Morgenstunden von den Taliban gegen mehrere Städte gerichtet wurden. Der Provinzgouverneur von Kandahar, einer Hochburg der Taliban, entkam einem Bombenattentat.

Tatsache ist, daß die Einschüchterungstaktik der radikalen Kräfte teilweise funktioniert hat und viele der Abstimmenden sich der Gefahr für Leib und Leben durchaus bewußt waren. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon lobte in New York deshalb ausdrücklich den Mut der Wähler und zugleich »vorläufig« auch das Agieren der zuständigen Behörden, vor allem der nationalen Wahlkommission IEC. Auch der Oberkommandierende der US- und NATO-Truppen in Afghanistan, General David Petraeus, unterstrich in einem Statement die enorme Rolle, die der Westen dieser Wahl beimesse.

War bei der vorigen Parlamentswahl immerhin noch jeder Zweite zur Abstimmung erschienen, scheint diesmal bestenfalls ein Drittel der Registrierten von dem Grundrecht Gebrauch gemacht zu haben. Eine vorläufige Meldung der IEC sprach von 3,6 der insgesamt 11,4 Millionen Wähler, die ihre Stimme abgegeben hätten. UN-Sonderbeauftragter Staffan de Mistura, der sich kurz zuvor noch öffentlich fünf bis sieben Millionen Wähler erhofft hatte, meinte denn auch etwas enttäuscht, es sei verfrüht, schon von einem Erfolg zu sprechen.

Grundsätzlich zufrieden zeigte sich dagegen Wahlkommissionschef Faizal Ahmad Manawi. Dabei übersah der IEC-Vorsitzende offenbar die Meldungen über mindestens 22000 schon im Vorfeld gefundener gefälschter Registrierungskarten sowie weitere Manipulationsvorwürfe, die sich an der Tinte festmachen, mit der Wähler zur Verhinderung einer mehrfachen Stimm­abgabe gekennzeichnet wurden. In 2950 Abstimmungslokalen soll der Farbstoff von den Fingern der Wähler einfach abzuwaschen gewesen sein, wie die IEC selbst gegenüber der britischen BBC eingestand.

Afghanistans Präsident Hamid Karsai, der bei vielen als Statthalter des Westens angesehen und als Bürgermeister von Kabul verspottet wird, wählte in einer Schule in der Hauptstadt. Erst Ende Oktober, wenn das amtliche Wahlergebnis verkündet werden soll, wird feststehen, ob sich seine Hoffnung auf ein gefügigeres Parlament erfüllt. Die bisherigen Abgeordneten hatten unter anderem mehrere Minister seiner Kabinettsvorschlagsliste durchfallen lassen.

** Aus: junge Welt, 20. September 2010


Zweifel am Hindukusch

Von Olaf Standke ***

Wenn das denn schon ein Erfolg ist: Die Zahl der Angriffe und Opfer beim Urnengang in Afghanistan bewege sich in etwa auf dem Niveau der Präsidentschaftswahlen 2009, war aus Kabul zu hören. Laut verschiedener Quellen muss man wohl von über 40 Toten und mehr als 450 gewaltsamen Zwischenfällen ausgehen. Eine 40-prozentige Wahlbeteiligung allerdings läge über der des Vorjahrs, nur bezweifeln ausländische Beobachter diese Angaben stark. Tatsächlich sind angesichts der katastrophalen Sicherheitsverhältnisse am Hindukusch alle, die von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht haben, für ihren Mut nur zu loben. Doch von einem »Bekenntnis zur Demokratisierung« zu sprechen, wie es Bundesaußenminister Westerwelle tat, ist dann doch ein Euphemismus. Auffällig war vielmehr, dass nach dem massiven Wahlbetrug und den folgenden Manipulationsversuchen im Vorjahr große Teile der Bevölkerung wenig Interesse zeigten. So kursierten tausende falsche Wahlkarten, und die Tinte, mit der der Zeigefinger eigentlich deutlich markiert werden sollte, um Mehrfachabstimmungen zu vermeiden, erwies sich als leicht abwaschbar. Da verwundert es nicht, dass bei der Wahlkommission bis gestern schon über 1000 Anzeigen eingingen. Aber da die Kommission selbst ihrer Rolle als unabhängige Institution nur unzulänglich gerecht geworden ist, könnte es leicht passieren, dass auch das für Oktober angekündigte amtliche Endergebnis nicht alle Zweifel ausräumen kann.

*** Aus: Neues Deutschland, 20. September 2010 (Kommentar)

Lesen Sie auch die Stellungnahme aus der Friedensbewegung:

Nach der Scheinwahl: Friedensbewegung fordert Truppenabzug aus Afghanistan




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