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Afghanistans embryonale Demokratie unterliegt

Die Bedingungen, unter denen Afghanistans Parlamentswahl am kommenden Sonnabend stattfinden wird, sind mangelhaft

Von Thomas Ruttig, Kabul *

Bundesaußenminister Guido Westerwelle appellierte am Montag an die afghanische Führung, für freie Parlamentswahlen in ihrem Land zu sorgen. Man dürfe an die Abstimmung am 18. September zwar keine mitteleuropäischen Maßstäbe anlegen, sagte Westerwelle in Berlin, doch der Wille der Bürger in Afghanistan müsse frei zum Ausdruck kommen können. Man darf bezweifeln, dass dem so sein wird. Wahlwerbung in Kabul: dem Anschein nach ganz demokratisch Wahlwerbung in Kabul: dem Anschein nach ganz demokratisch Foto: AFP

»Der Kommunismus ist hier gescheitert, der Islam ist hier gescheitert. Der einzige Weg ist jetzt die Demokratie«, sagte ein afghanischer Bekannter unmittelbar nach dem Ende des Taliban-Regimes im Jahr 2001. Der Mann, der jetzt im Parlament sitzt und auch bei den kommenden Wahlen wieder kandidiert, fragte sich aber: »Was wird geschehen, wenn auch die Demokratie scheitert?«

Das Regime der Mudschahedin nach dem Abzug der sowjetischen Truppen hatte das Land in einen neuen Bürgerkrieg geführt, das der Taliban führte zu Entrechtung, nicht nur für Frauen, Isolation von der Weltgemeinschaft und sozialem Rückschritt. Die Politik der Taliban bestand oft nur aus Gottvertrauen – wissend, dass UNO und Hilfsorganisationen sich schon um das Schlimmste kümmern würden. Nicht nur Intellektuelle, auch Afghanen im Basar erklärten dem westlichen Besucher, dass sie Afghanistan wieder als »ein Land wie jedes andere« sehen wollten, Wahlen eingeschlossen. Demokratie war ein Hoffnungswort.

Am kommenden Sonnabend (18. Sep.) findet eine Parlamentswahl in Afghanistan statt, die zweite nach dem Sturz der Taliban. Aber Afghanistans junger, zerbrechlicher demokratischer Prozess befindet sich schon wieder im Rückwärtsgang. Die Wahl wird auch die politische Abschiedsvorstellung der internationalen Gemeinschaft sein, und alles danach nur noch Teil des Rückzugs, durch das beschönigende Wort »Afghanisierung« verbrämt. Der Rückzug wiederum ist Zeichen des unnötigen Scheiterns des Westens.

Schon die erste Präsidentschaftswahl 2004, bei der Hamid Karsai triumphierte, und die Parlamentswahl im Jahr darauf waren nicht frei von Manipulationen und Unregelmäßigkeiten. Doch Karsai galt den meisten Afghanen und dem Ausland damals noch als Hoffnungsträger. Das Wahlergebnis galt deshalb als Widerspiegelung des Wählerwillens, auch wenn es nicht regelgerecht zustande gekommen war.

Diese Nachlässigkeit der westlichen Unterstützer Karsais rächte sich 2009, als die Wahl mit wohl über einer Million gefälschten Stimmen – von sechs Millionen abgegebenen – im Chaos versank und die Legitimität der Kabuler Regierung noch stärker ins Wanken brachte. Die westlichen Regierungen entschieden sich trotzdem, Karsai als Sieger zu akzeptierten.

Nach den Wahlen 2004, 2005 und 2009 schrieben alle Beobachter – ob von der EU, der OSZE oder vom afghanischen unabhängigen Dachverband FEFA – Berichte voller Empfehlungen. Das Wahlrecht müsse reformiert, Parteien müssten zu den Wahlen zugelassen werden, die Wahlkommission dürfe nicht nur dem Namen nach unabhängig sein und brauchbare Wählerlisten seien anzulegen. In Afghanistan kursieren 17 Millionen Wählerausweise, aber offiziell gibt es nur 12,6 Millionen Wähler – ein Potenzial für neuerliche Fälschungen. Durch Verwirklichung der Empfehlungen sollten Wahlen in Afghanistan rechtzeitig wieder Glaubwürdigkeit erhalten.

Doch die internationale Gemeinschaft, beschäftigt damit, die Taliban militärisch zurückzudrängen, machte ihre politischen Hausaufgaben nicht. Sie ließ Präsident Karsai faktisch freie Hand. Der nutzte diesen Spielraum und den Erfahrungsmangel des durch Fraktionsverbot bewusst zersplitterten Parlaments, um die Wahlinstitutionen noch stärker unter seine Kontrolle zu bringen und das neue Wahlgesetz zu blockieren. Im Ergebnis wird das neue Parlament wohl ebenfalls von ihm kontrolliert werden.

Trotzdem nahm die internationale Gemeinschaft Zuflucht zu einer Politik, die ein hoher Wahlbeobachter von 2009 jetzt so beschrieb: »Nichts Böses sehen, nichts Böses sagen«. Auf der internationalen Afghanistan-Konferenz im Juli bescheinigte sie der Karsai-Regierung wider besseres Wissen, sie fühle sich »vollständig zur Durchführung transparenter, umfassender und glaubwürdiger Wahlen verpflichtet«. Statt Beobachter entsenden EU, OSZE und UN nur noch Wahlassistenten, die keine öffentlichen Erklärungen abgeben werden. Ein weiterer Konflikt mit Karsai soll vermieden werden. Der ist damit schon jetzt Wahlsieger. Afghanistans Embryo-Demokratie unterliegt.

* Der Autor ist Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN) und wird die Wahl am Sonnabend als offizieller Beobachter im Südosten des Landes begleiten.

Aus: Neues Deutschland, 14. September 2010



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