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Rückkehr der Tugendwächter?

Afghanistan: Debatte um Wiedereinführung der Sittenpolizei der Taliban

Von Hilmar König, Delhi

Die afghanische Regierung hat einem Plan islamischer Geistlicher zugestimmt, die berüchtigte »Abteilung gegen das Laster und für die Tugend« wiederzubeleben. Das letzte Wort bleibt allerdings dem Parlament vorbehalten, in dem die Meinungen dazu weit auseinandergehen.


Vielen Afghanen läuft ein Schauer über den Rücken, wenn sie an die Zeit denken, in der die mit Bambusknüppeln bewaffnete Religionspolizei der Taliban ihnen das Leben zur Hölle machte. Im Auftrag der so genannten Abteilung gegen das Laster und für die Tugend waren die Sittenwächter auf den Straßen unterwegs, um rigoros gegen »Sünder« vorzugehen: gegen Frauen ohne männliche Begleitung oder ohne Schleier und Umhang, gegen Männer, die ihren Bart nicht wild wachsen ließen, gegen Mädchen, die eventuell heimlich eine Schule besuchen wollten. Die Religionspolizei hatte dafür Sorge zu tragen, dass die zahlreichen Verbote eingehalten werden. So war es nicht nur untersagt, zu stehlen und zu bestechen, sondern auch, Musik zu hören, Alkohol zu trinken, sich fotografieren zu lassen, bestimmte Sportarten zu betreiben, Drogen zu nehmen, Kosmetik- oder Friseursalons zu betreiben oder zu besuchen. Die Sittenwächter setzten zudem durch, dass die Angehörigen der hinduistischen Minderheit ein gelbes Zeichen an der Kleidung tragen mussten. Im Sportstadion von Kabul mussten tausende Zuschauer öffentlichen Hinrichtungen oder Auspeitschungen von »Frevlern« beiwohnen.

Die Reaktivierung der Kontrolleinrichtung, die mit dem Sturz des Taliban-Regimes im Herbst 2001 verschwand, sei keine religiöse, sondern eine politische Entscheidung, glaubt die Parlamentarierin Malalai Joya aus der Provinz Farah. Die Kriegsherren, der konservative Klerus und die Glaubenskrieger wollten zeigen, wie mächtig sie sind. Auch die Abgeordnete Shukaia Barakzai ist gegen eine solche Sittenpolizei, weil sie zu sehr an die Gewalt-Ära der Taliban erinnert. »Mit Sicherheit werde ich dagegen stimmen«, äußerte sie.

Die unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans betonte in einer Stellungnahme, dass im Verfassungsentwurf keine Notwendigkeit für den Aufbau einer solchen Abteilung gesehen wurde. Für das Fehlverhalten von Bürgern gebe es bereits die Polizei. Die Befürworter der Religionspolizei im Parlament, wie Mir Ahmad Joyenda oder Qari Rahmatullah, sind dagegen überzeugt davon, dass Afghanistan als islamisches Land eine solche Einrichtung braucht, um die Menschen auf das Gute zu orientieren und sie vom Bösen abzuhalten.

Die Regierung versucht, die hitzige Debatte zu entschärfen, und argumentiert, ein Vergleich mit den Taliban sei unzulässig. Die Sittenwächter würden lediglich die Menschen in die Moscheen rufen und ihnen dort vom Alkohol, von Drogen, Prostitution und anderen Übeln abraten. »Unsere Prioritäten sollten Frieden, Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen und Wiederaufbau des Landes sein und nicht eine Laster-Tugend-Abteilung, die die Menschen zwingt, in die Moscheen zu gehen«, entgegnet dem Malalai Joya, die wegen ihrer unerschrockenen Kritik bereits Todesdrohungen erhielt.

Beobachter in Kabul fragen sich, ob Präsident Hamid Karsai keine anderen Sorgen hat, als ein solches Kontrollgremium zu etablieren. Die Unsicherheit der Bürger, das Wiedererstarken der Taliban, Armut, Obdach- und Arbeitslosigkeit, das Schicksal von Millionen aus Pakistan und Iran Heimgekehrter, Missernten, die Probleme mit der Präsenz ausländischer Truppen müssten eigentlich die ganze Aufmerksamkeit des Staatsoberhauptes fesseln. Zusätzlich zu den 6,5 Millionen Afghanen, die von chronischer »Nahrungsmittelunsicherheit« betroffen sind, droht wegen der gegenwärtigen Dürre 2,5 Millionen Menschen akuter Nahrungsmittelmangel. Die Weizenernte wird in diesem Jahr voraussichtlich um 3,71 Millionen Tonnen geringer als im Vorjahr ausfallen. Afghanistan braucht laut UN-Angaben eine Nahrungsmittelhilfe in Höhe von 76 Millionen Dollar.

* Aus: Neues Deutschland, 3. August 2006


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