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NATO flieht vor Taliban

Bewaffnete Widerstandsgruppen machen den NATO-Truppen in Afghanistan immer mehr zu schaffen

Von Rüdiger Göbel *

Am Mittwoch (16. Juli) sahen sich US-Truppen nach schweren Verlusten gezwungen, eine gerade erst errichtete Militärstellung im östlichen Grenzgebiet zu Pakistan wieder zu räumen. »Wir haben unseren Posten im Dorf Wanat aufgegeben«, erklärte NATO-Sprecher Mark Laity gestern. Rund 200 schwerbewaffnete Taliban-Kämpfer hatten sich dort am Sonntag über Stunden Gefechte mit den Besatzern geliefert. Die rund 45 US-Soldaten und 25 Angehörigen der afghanischen Hilfstruppen konnten Presseberichten zufolge nur mit Mühe verhindern, daß sie überrannt werden. Neun US-Soldaten wurden bei den Kämpfen in der Provinz Nuristan getötet, mindestens 15 weitere verletzt.

Auch in den Provinzen Kandahar und Paktia gibt es schwere Gefechte. NATO-Angaben zufolge wurden am Mittwoch »mindestens zwölf Aufständische« getötet, unter ihnen ein lokaler Taliban-Kommandeur. In der Provinz Helmand wurde laut afghanischer Polizei bei einem Selbstmordanschlag ein Zivilist getötet, sechs weitere erlitten Verletzungen.

Die Lage der Besatzer ist militärisch offensichtlich so schwierig, daß »bereits in aller Stille amerikanische Soldaten vom Irak nach Afghanistan verlegt worden« sind. Das berichtete die Nachrichtenagentur ddp am Mittwoch unter Berufung auf US-Geheimdienste. Die designierten Präsidentschaftskandidaten Barack Obama (Demokraten) und John McCain (Republikaner) kündigten inzwischen eine »umfassende neue Strategie« für das Vorgehen im Land am Hindukusch an. Beide setzen auf noch mehr Truppen und noch mehr Krieg. Obama erklärte in einer außenpolitischen Grundsatzrede am Dienstag, er wolle zwei Kampfbrigaden, rund 10000 Mann, vom Irak nach Afghanistan schicken. Außerdem sollten sich die NATO-Partner deutlich stärker engagieren. Konkurrent McCain will die derzeit 70000 alliierten Soldaten in Afghanistan um drei US-Brigaden verstärken. Die Agentur ddp übersetzte dies gestern: Im Fall eines Wahlsieges des US-Demokraten müsse die Bundeswehr ihre Truppenstärke am Hindukusch wahrscheinlich verdoppeln. »Nach der außenpolitischen Standortbestimmung, die Obama vorgenommen hat, war am Mittwoch aus militärischen Kreisen in Washington zu erfahren, daß wegen der prekären Lage in Afghanistan 'unter Umständen' von der Bundeswehr eine Aufstockung ihrer Truppenstärke am Hindukusch 'auf rund 9000 Mann erwartet werden dürfte', kolportierte ddp-Korrespondent Friedrich Kuhn. »Die Deutschen, aber auch alle europäischen Verbündeten, werden sich noch wundern«, zitierte der Autor mit guten Kontakten zu Geheimdiensten und Militär einen namentlich nicht genannten US-General. Die Bundeswehr müsse insgesamt in Afghanistan »wesentlich mehr leisten«.

Noch offiziellen Bekundungen der Bundesregierung ist bisher geplant, das Afghanistan-Kontingent der Bundeswehr im Herbst von 3500 auf 4500 Soldaten zu erhöhen und das Mandat um 14 Monate zu verlängern. »Offiziere in Berlin« erklärten gegenüber ddp, wenn die Bundeswehr Obamas Vorstellungen umsetzen müßte, wäre es nötig, die augenblickliche Einsatzdauer von deutschen Soldaten in Afghanistan von vier auf sechs Monate zu verlängern. Das Hauptproblem bestehe allerdings darin, daß es nicht genügend eigentliche Kampfverbände gebe. »Die Leute für ganz vorn am Gegner fehlen uns«, läßt ddp einen Heeresoffizier klagen. Hauptthema der anderen Medien gestern war die Frage, wo Obama bei seinem Berlin-Besuch in der kommenden Woche spricht.

* Aus: junge Welt, 17. Juli 2008

Noch zwei Meldungen

Afghanistan: Karsai entläßt Generalstaatsanwalt

Kabul. Der afghanische Präsident Hamid Karsai hat Generalstaatsanwalt Abdul Dschabar Sabet entlassen, der als Gegenkandidat Karsais bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr antreten will. Die Bekanntgabe der Kandidatur komme einem Rücktritt gleich, den er annehme, erklärte Karsai am Mittwoch in Kabul. Sabet kritisierte die Entscheidung, die nicht der Verfassung entspreche. Er warf Karsai vor, ihn nicht in seinem Kampf gegen korrupte Gouverneure unterstützt zu haben.
(AFP/jW, 17. 07.2008)

USA wollen Truppen in Afghanistan verstärken

Angesichts der bedrohlichen Sicherheitslage in Afghanistan wollen die USA mehr Soldaten an den Hindukusch schicken. Das Pentagon suche nach Wegen, "lieber früher als später" weitere Truppen in dem Land zu stationieren, sagte US-Verteidigungsminister Robert Gates bei einer Pressekonferenz mit Generalstabschef Michael Mullen in Washington. Entscheidungen seien aber noch nicht getroffen worden. Beide US-Vertreter forderten auch mehr Einsatz von Pakistan, um das Eindringen von Taliban aus dem Grenzgebiet nach Afghanistan zu verhindern.

Die Bedrohung in Afghanistan nehme zu, sagte Mullen. "Es ist ein härterer Kampf, es ist ein komplexerer Kampf." Deshalb bräuchten die US-Befehlshaber in Afghanistan weitere Truppen, um langfristige Erfolge verbuchen zu können. Gates sagte, die USA arbeiteten derzeit hart daran, Verstärkung schicken zu können. Eine endgültige Entscheidung stünde aber noch aus.

In Afghanistan hatten US-Befehlshaber zuletzt rund 10.000 zusätzliche Soldaten sowie eine Verdoppelung der gepanzerten Fahrzeuge zum Schutz gegen Sprengstoffanschläge gefordert. Bei einem der verlustreichsten Einsätze der NATO-geführten Schutztruppe seit ihrer Stationierung Ende 2001 in Afghanistan waren am Sonntag neun US-Soldaten getötet worden. Aufständische hatten einen Außenposten nahe der Grenze zu Pakistan angegriffen.

Im Irak hingegen habe sich die Sicherheitslage auf bemerkenswerte Weise gebessert, sagte Mullen. Auch hätten die irakischen Sicherheitskräfte an Selbstvertrauen gewonnen. Wenn sich dieser Trend fortsetze, werde er im Herbst dem Präsidenten und dem Verteidigungsminister eine weitere Reduzierung der dortigen Truppen empfehlen. Mullen hatte in der vergangenen Woche den Irak, Afghanistan und Pakistan besucht. Derzeit sind rund 150.000 US-Soldaten im Irak und 36.000 in Afghanistan stationiert.

Gates und Mullen forderten von Pakistan, mehr Druck auf die im Grenzgebiet zu Afghanistan aktiven Taliban auszuüben. "Wir sehen eine größere Zahl Aufständischer und ausländischer Kämpfer ungehindert und unbehelligt über die Grenze mit Pakistan strömen. Diese Bewegung muss enden", sagte Mullen. Berichte, die US-Truppen würden sich an der Grenze zu Pakistan für einen Einmarsch in die Stammesgebiete sammeln, wies er zurück.

AFP, 17. Juli 2008




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