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Auflagen für Afghanistan

Konferenz in Tokio bindet Milliardenhilfe an konkrete Reformen in Kabul

Von Olaf Standke *

Reformen und bessere Regierungsführung sind wieder einmal Bedingungen, an die Geberstaaten auf der Afghanistan-Konferenz in Tokio am Sonntag ihre Finanzhilfen in Höhe von 16 Milliarden Dollar in den nächsten Jahren geknüpft haben.

Von der Afghanistan-Konferenz in Bonn im Vorjahr konnte Präsident Hamid Karsai nur allgemeine Hilfsversprechen mit nach Hause nehmen. Am Sonntag in Tokio wurden nun konkrete Finanzzusagen nachgereicht - aber auch nachprüfbare Verpflichtungen für Kabul festgelegt. Von ziviler Aufbauhilfe in Höhe von umgerechnet 13 Milliarden Euro bis 2015 ist die Rede. Ähnlich hoch soll die Militärhilfe ausfallen, die schon auf dem NATO-Gipfel in Chicago beschlossen worden ist.

Der größte Anteil wird weiter aus den USA kommen, die seit 2001 jährlich zwischen einer und zuletzt 2,3 Milliarden Dollar für den zivilen Bereich transferierten. Laut Außenministerin Hillary Clinton wolle man die Unterstützung in dieser Größenordnung bis 2017 beibehalten und dem Kongress einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Zudem haben die USA Afghanistan jetzt in den Kreis ihrer wichtigen Verbündeten außerhalb der NATO aufgenommen, als ersten Staat in der Amtszeit Barack Obamas. Die nun 15 Staaten weltweit mit diesem Status haben unter anderem leichteren Zugang zu Waffen und Rüstungsgütern.

Der zweitgrößte Geber Japan versprach insgesamt drei Milliarden Dollar bis 2016. Deutschland wird mit 430 Millionen Euro jährlich wichtigstes europäisches Geberland sein. Die Zusagen liegen auf dem bisherigen Level und gelten auch bis 2016, so Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Wie UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon betonte, brauchten die Menschen am Hindukusch eine langfristige Perspektive.

Die Geberländer verlangen im Gegenzug von Kabul konkrete Fortschritte bei der Regierungsführung. Gemessen wird an gemeinsam festgelegten Indikatoren etwa beim Kampf gegen Korruption und Drogen, bei der Vorbereitung und Durchführung freier und fairer Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2014 und 2015 oder mit Blick auf die Frauenrechte im Lande. Insgesamt muss die Regierung Karsai 16 Verpflichtungen nachkommen. Die Erfüllung auf den verschiedenen Ebenen soll regelmäßig kontrolliert werden und ein Ministertreffen in London 2014 die Entwicklung bewerten.

Karsai hat selbst eingeräumt, dass seine Regierung ihre Leistung verbessern müsse, und versprach in Tokio erneut sichtbare Fortschritte. Fast zeitgleich starben bei Anschlägen an vier Orten in Afghanistan elf Zivilisten, darunter vier Kinder. Und im Internet kann man auf einem aktuellen Video sehen, wie ein Taliban-Moralwächter unweit Kabuls auf offener Straße unter Beifall eine Frau hinrichtet.

* Aus: neues deutschland, Montag, 9. Juli 2012

Hier geht es zur Abschlusserklärung von Tokio:

Partnership for Self-Reliance in Afghanistan - From Transition to Transformation
Tokyo Conference on Afghanistan: The Tokyo Declaration / Das Abschlussdokument der Tokioter Geberkonferenz (englisch)



Bejubelter Mord

Von Arnold Schölzel

In Afghanistan ist Ende Juni eine 22jährige Frau vor den Bewohnern ihres Dorfes Kol und vor laufender Kamera nördlich der Hauptstadt Kabul mit mehreren Schüssen in den Rücken getötet worden. Ihr wurde Ehebruch vorgeworfen. Das teilte laut AFP eine Sprecherin der Polizei in der Provinz Parwan am Sonntag mit. Einer der Dorfbewohner habe das Video der Provinzregierung übergeben, die nun nach den Verantwortlichen suche. Die Regierung in Kabul verurteilte die Tat als »unislamisch und unmenschlich«. Die Taliban dementierten, mit dem Mord etwas zu tun zu haben. Die afghanische Abgeordnete Fawsia Koofi bezeichnete ihn als riesigen Schritt rückwärts.

Bekannt wurde der Vofall gleichzeitig mit dem Aufenthalt von US-Außenministerin Hillary Clinton in Kabul am Sonnabend. Sie erklärte dort, der Fortschritt komme schrittweise, aber nicht ständig nach Afghanistan, und deklarierte angesichts solch positiver Bilanz das Land offiziell zu einem »wichtigen nicht-NATO-Verbündeten« der USA. Sie betonte, Afghanistan habe so Zugang zu US-Verteidigungsgütern und Ausbildung sowie Zusammenarbeit nach dem sogenannten Abzug der NATO-Interventen 2014. Zu den 14 weiteren Staaten, die diesen Status haben, zählen Australien, Ägypten, Israel und Japan. Zuletzt erhielt ihn Pakistan 2004. Ein entsprechendes Abkommen sieht die Stationierung von US-Truppen in Afghanistan über 2014 hinaus vor.

Kabul kann und soll diese Fortschreibung des Besatzerstatus der USA und ihrer NATO-Verbündeten aber nicht selbst finanzieren. Am Sonntag fand in Tokio eine sogenannte Geberkonferenz von etwa 80 Staaten, Hilfsorganisationen und der Weltbank statt. Dort wurde verkündet, Afghanistan werde nach 2014 Milliardenhilfen erhalten – allerdings geringere als bisher. Für die Jahre 2012 bis 2015 soll die zivile Hilfe insgesamt 16 Milliarden US-Dollar (13 Milliarden Euro) betragen. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) sicherte in Tokio jährlich 430 Millionen Euro aus der Bundesrepublik zu. Allein für Rüstung und Sicherheitskräfte hatten die NATO-Staaten bereits im Mai jährlich 4,1 Milliarden US-Dollar (Deutschland 150 Millionen Dollar) zugesagt. Die Geberländer verlangten in Tokio rituell erneut konkrete Fortschritte der einheimischen Protektoratsverwalter – etwa bei der Regierungsführung und dem Kampf gegen Korruption. Angesichts des westlichen Konzepts, das auf Militarisierung setzt, dürften die Summen ebenso wirkungslos bleiben wie in den vergangenen elf Jahren Krieg. Laut einer Weltbankstudie, die in Tokio vorlag, flossen allein im Haushaltsjahr 2010/11 15,7 Milliarden US-Dollar in das Land, das Gros in die Sicherheitskräfte, sechs Milliarden in zivile Unternehmen. Davon sei nur ein Bruchteil bei den Afghanen angekommen, das meiste sofort wieder ins Ausland gegangen.

Der US-Senat hatte bereits 2011 konstatiert, die immensen Geldmengen – allein die USA steckten zwischen 2002 und 2010 18,78 Milliarden Dollar in den zivilen Sektor, über 32 Milliarden in den Sicherheitsbereich – hätten die Korruption angeheizt, durch Subventionen seien lokale Agrarstrukturen und Absatzmärkte zerstört worden, völlig überhöhte Löhne für afghanische Helfer der etwa 2500 Hilfsorganisationen verzerrten zudem das Lohngefüge. Das Land gehört daher nach elf Jahren »Aufbau« weiter zu den fünf ärmsten Ländern der Welt, Dreiviertel der Einwohner sind Analphabeten. Am Sonntag wurden bei Anschlägen und Gefechten mehr als 40 Menschen getötet.

** Aus: Junge Welt, Montag, 9. Juli 2012

Afghanistan: Solidarität und Erwartung ***

Die Internationalen Gemeinschaft hat bei der Tokioter Afghanistan-Konferenz am 8. Juli die Leitlinien für ihr künftiges ziviles Engagement im Land vereinbart. Die Konferenz sei ein "wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer guten und verlässlichen Zukunft Afghanistans", sagte Außenminister Westerwelle nach Ende des Treffens. Die internationale Gemeinschaft werde den zivilen Aufbau Afghanistans unterstützen - auch dann, wenn die internationalen Kampftruppen abgezogen sind.

Für die nächsten vier Jahre bis einschließlich 2015 hat die internationale Gemeinschaft Afghanistan 16 Milliarden US-Dollar an ziviler Wiederaufbauhilfe zugesagt; Deutschland steuert 430 Millionen Euro pro Jahr bei.

Bei der in Tokio getroffenen Vereinbarung handele es sich dabei nicht um eine einseitige Zusage, sondern eine "gegenseitige Vereinbarung", betonte Westerwelle. "Es werden keine Blankoschecks ausgestellt", sagte er. "Wir helfen, aber wir erwarten auch greifbare Ergebnisse als Gegenleistung." Konkret werde Deutschland Mittel dann gewähren, wenn es nachprüfbare Fortschritte bei der besseren Regierungsführung und beim Kampf gegen Korruption gebe.

Die eintägige Afghanistan-Konferenz in Tokio war als ziviles Gegenstück zum NATO-Gipfel vom Mai in Chicago angelegt, bei dem die Staats- und Regierungschefs weitere Ausbildung, Beratung, Unterstützung und Finanzierung für die afghanischen Sicherheitskräfte über 2014 hinaus zugesagt hatten. Ziel der Konferenz von Tokio war es, die richtigen Rahmenbedingungen für das weitere internationale zivile Engagement für Afghanistan zu schaffen. Grundlage hierfür sind die Ergebnisse der Internationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn vom Dezember 2011, bei dem feste gegenseitige Verpflichtungen vereinbart wurden.

Überprüfbare Verpflichtungen

Im Sinne dieser festen gegenseitigen Verpflichtungen haben Afghanistan und die internationale Gemeinschaft in Tokio eine Rahmenvereinbarung - das so genannte "Tokyo Mutual Accountability Framework" - vereinbart. Die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, ihre Unterstützung für Afghanistan fortzusetzen, hänge davon ab, dass die afghanische Regierung ihre Verpflichtungen erfülle.

Anhand von 16 überprüfbaren Indikatoren verpflichtet sich die afghanische Seite zu konkreten Fortschritten - etwa bei der Korruptions- oder Drogenbekämpfung. Weitere Punkte sind die Schaffung einer Finanzaufsicht oder die Erhöhung der Zoll- und Steuereinnahmen.

Mit Blick auf die demokratische Entwicklung wird festgelegt, dass in den Jahren 2014 und 2015 glaubwürdige und transparente Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Einklang mit der afghanischen Verfassung stattfinden sollen - hierzu soll bis 2013 ein Fahrplan vorgelegt werden.

Überprüft werden sollen die Fortschritte durch ein dreistufiges Verfahren:
  • In Kabul trifft sich ein Expertengremium, das die Fortschritte vor Ort regelmäßig und zeitnah überprüfen soll.
  • Außerdem wird ab 2013 alle zwei Jahre ein internationales Überprüfungstreffen auf Ebene hochrangiger Regierungsexperten stattfinden.
  • Ab 2014 soll es dann alle zwei Jahre internationale Überprüfungstreffen auf Ministerebene geben.
Politische Lösung

Westerwelle bekräftigte in Tokio nochmals den Fahrplan für den Abzug der internationalen Kampftruppen. "Wir sind der Überzeugung, dass eine politische Lösung notwendig ist", sagte er. "Und deswegen werden wir den Abzug unserer Kampftruppen - so wie es international vereinbart ist - bis zum Jahr 2014 abgeschlossen haben."

Das setze aber voraus, dass die Übergabe der Sicherheitsverantwortung entsprechend begleitet werde und Afghanistan eine Perspektive für die Zeit danach habe. "Nur wenn Afghanistan weiß, dass es nicht vergessen wird, gibt es die Chance, dass es auch eine verlässliche und gute Zukunft für das Land und für die Menschen geben kann", so Westerwelle. Zahlreiche Treffen am Rande der Konferenz

Außenminister Westerwelle nutzt seinen Aufenthalt in Tokio auch für eine Reihe von bilateralen politischen Gesprächen - am 7. Juli traf er mit seinem japanischen Amtskollegen Koichiro Gemba zusammen; ebenfalls kam er mit dem afghanischen Präsident Karzai und der pakistanischen Außenministerin Khar zusammen.

Aus Sicht der Bundesregierung war es wichtig, dass die afghanische Zivilbevölkerung - wie bereits bei der Konferenz in Bonn - eng eingebunden ist. Gemeinsam mit Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel, der auch an der Tokioter Konferenz teilnahm, traf Außenminister Westerwelle ebenfalls am 7. Juli mit Vertretern der afghanischen Zivilgesellschaft zusammen.

*** Quelle: Auswärtiges Amt, 8. Juli 2012; www.auswaertiges-amt.de




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