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Wohin führt Afghanistans Weg?

Hans-Christian Ströbele über die Lage am Hindukusch



Der Parlamentarier sitzt für Bündnis 90/Die Grünen im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages.

ND: Warum haben Sie sich gerade vier Tage in Afghanistan aufgehalten?

Ströbele: Ich wollte möglichst viele Meinungen einholen, um zu erfahren, wie sich die dortige Sicherheitslage in den letzten Jahren entwickelt hat und wie sie sich bis 2014 gestalten könnte. Außerdem wollte ich erkunden, welche Möglichkeiten es gibt, Verhandlungen in Gang zu bringen.

Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen?

Wir hörten von allen Gesprächspartnern, die Mitglieder der Regierung nehme ich aus, dass die Sicherheitslage schlechter geworden sei. Viele Menschen erzählten, dass es zu gefährlich sei, sich frei zu bewegen. Auch Kabul sei nicht sicher, wurde uns mehrfach berichtet. Aussagen, die sich auf grausame Weise bestätigten, als 500 Meter von uns entfernt, wir saßen gerade im Hotel beim Mittagessen, die Anschläge im Diplomaten-Viertel begannen.

Glauben Sie, dass die Taliban verhandlungsbereit sind?

Wir haben mit zwei Mitgliedern der ehemaligen Taliban-Regierung gesprochen. Einer wurde erst vor zwei Wochen von der Schwarzen Liste der UNO gestrichen, der andere war vier Jahre Häftling in Guantanamo, vorher Botschafter der Taliban in Pakistan. Beide sagten, wenn ihre Sicherheit garantiert würde, seien sie zu Gesprächen bereit und würden gerne an der Petersberger Konferenz im Dezember teilnehmen. Und auch jene, die sich von den Taliban bedroht sehen, äußerten den Wunsch, dass diese an den Gesprächen beteiligt werden. Ohne Teilnahme aller Kriegsbeteiligten kann kein Frieden erreicht werden.

Kann die Petersberger Konferenz überhaupt Lösungen bieten?

In Afghanistan gibt es da sehr große Erwartungen: eine neue Regierung, neue Wahlen, Sicherheit und Frieden im Land. Diese Hoffnungen können nur enttäuscht werden, wenn nicht ein Wunder geschieht. Den großen Durchbruch wird die Konferenz nicht bringen, dafür sehe ich die Voraussetzungen nicht. Und ich kann verstehen, dass »Petersberg II« innenpolitisch in Frage gestellt wird, etwa wegen der geringen Beteiligung der Zivilgesellschaft oder der starken afghanischen Frauenbewegung.

Sie fordern, wie die Friedensbewegung, einen Waffenstillstand.

Reden ist immer besser als Schießen. Die ausländischen Soldaten von einem Tag auf den anderen abzuziehen, geht nicht. Das wichtigste ist doch, das Töten, also den Krieg, sofort zu beenden. Wir brauchen dringend einen Waffenstillstand. Die Drohnen- und Großangriffe, die Special-Force-Angriffe der Amerikaner müssen aufhören. Das gleiche gilt für die Anschläge und bewaffneten Angriffe, wie wir sie jetzt in Kabul seitens der Taliban erlebt haben. Wir können nur auf Gespräche setzen.

Inwieweit hat die afghanische Regierung dafür überhaupt etwas in der Hand?

Um das Ansehen der Regierung Karsai steht es schlecht. Formal hat sie alle Möglichkeiten. Aber ich glaube, sie könnte ihre Vorstellungen nicht durchsetzen, selbst wenn sie anderes wollte.

Die Friedensbewegung wirft den USA vor, dass sie keine Beendigung des Krieges, sondern nur eine Veränderung ihrer Militärstrategie anstrebten.

Man kann nicht mit Drohnen und Spezialkommandos ausrücken, um die Leute zu töten, mit denen man verhandeln will. Das ist kontraproduktiv und schafft eine schizophrene Situation.

Fragen: Antje Stiebitz

* Aus: Neues Deutschland, 17. September 2011

Dokumentiert: Aufruf des Friedensratschlags zum Aktionsherbst Afghanistan

Zehn Jahre Krieg in Afghanistan:

Truppen abziehen – sofort und bedingungslos

Aufruf des Bundesausschusses Friedensratschlag zum Aktionsherbst 2011

Am 7. Oktober 2011 jährt sich zum zehnten Mal der Beginn des US-Kriegs gegen Afghanistan, dem sich die Bundesrepublik Deutschland im November desselben Jahres angeschlossen hat. Im Dezember vor zehn Jahren wurde auf der Konferenz in Petersberg bei Bonn eine provisorische Regierung für Afghanistan eingesetzt; wenige Tage später beschloss der UN-Sicherheitsrat den ISAF-Einsatz zur „Stabilisierung“ des Karsai-Regimes. Der angebliche „Krieg gegen den Terror“ hatte sich bald zu einem umfassenden Krieg um die Kontrolle über das zentralasiatische Land entwickelt – mit zunehmender Gewalt und einer wachsenden Zahl ziviler Opfer.

Im Dezember 2011 wird ein Gipfeltreffen der NATO-Kriegsallianz und anderer Staaten in Bonn stattfinden, um über die Zukunft Afghanistans zu beraten. Man braucht wenig Phantasie um vorherzusagen, was dort herauskommen wird. Sie sagen: Der Krieg soll so lange weiter geführt werden, bis die Afghanen für ihre eigene „Sicherheit“ sorgen können. In Wahrheit wird der Krieg weiter geführt, bis die führenden Staaten des Westens das strategisch so bedeutsame zentralasiatische Land vollständig unter ihre Kontrolle gebracht haben.

Garniert wird diese Kriegsverlängerung mit der Ankündigung, parallel dazu den zivilen Aufbau des Landes zu verstärken. Aber: Wer Krieg führt, kann nicht gleichzeitig die Folgen des Krieges beseitigen. Solange über Afghanistan Bomben abgeworfen und Raketen und Marschflugkörper eingesetzt werden, kann das Land nicht aufgebaut werden, können weder frei Wahlen durchgeführt noch sozialer Fortschritt oder Menschenrechte verwirklicht werden.

Daher sagen wir: Die Menschen in Afghanistan brauchen einen sofortigen Waffenstillstand sowie den unverzüglichen und bedingungslosen Abzug der fremden Truppen. Tod und Zerstörung würden gestoppt, Ressourcen der Kriegskoalition könnten für den Wiederaufbau des Landes eingesetzt werden. Damit würden wichtige Voraussetzungen für Frieden und Entwicklung geschaffen.

Die Friedensbewegung ruft zu einem Aktionsherbst für die Beendigung des Afghanistankriegs auf, der seinen Höhepunkt Anfang Dezember in Bonn finden wird:
  • Für den gemeinsamen Appell der Friedensbewegung „Den Krieg in Afghanistan beenden – zivil helfen“ sollen in den nächsten Wochen und Monaten verstärkt Unterschriften gesammelt werden; zum 10. Jahrestag des Kriegsbeginns sollen Zehntausende bis dahin gesammelte Unterschriften in Berlin übergeben werden.
  • Der 1. September (Antikriegstag) und der 4. September (zweiter Jahrestag des Kundus-Massakers) werden im ganzen Land genutzt, um auf den Wahnsinn des Krieges, auf Kriegsverbrechen und die Unmöglichkeit „humanitärer“ Kriegseinsätze – nicht nur in Afghanistan - hinzuweisen.
  • Am 7. Oktober sollen auf einer Veranstaltung in Berlin (Motto: „Wir klagen an“) zehn Jahre Krieg bilanziert und die Verantwortlichen und Täter beim Namen genannt werden.
  • Am 7./8. Oktober wird es in Berlin und vielen anderen Städten Protest-Aktionen, Mahnwachen, Demonstrationen u.ä. gegen den Afghanistankrieg geben.
  • Vom 6 bis 16. November findet die Ökumenische Friedensdekade unter dem vieldeutig-eindeutigen Motto „Gier Macht Krieg“ statt. Auch sie wird dem Thema Afghanistan einigen Raum geben.
  • Der Friedenspolitische Ratschlag in Kassel, der traditionell jeweils am ersten Dezemberwochenende stattfindet, wird dieses Jahr eine Woche vorher, am 26. und 27. November durchgeführt. Bilanz und Perspektiven des Afghanistankrieges werden einen Schwerpunkt des Ratschlags bilden.
  • Aus Anlass des oben erwähnten Gipfels wird die Friedensbewegung vom 3. bis 5. Dezember in Bonn ebenfalls präsent sein und gegen die Kriegskonferenz der NATO protestieren (u.a. bundesweite Demo und Gegengipfel).
Die Friedensbewegung bereitet einen ereignisreichen Aktionsherbst 2011 vor. Sie wird vielfältige Aktivitäten mit verschiedenen Gruppen und Organisationen durchführen: lokal, regional und bundesweit. Durch Argumente sollen viele Menschen dazu veranlasst werden, sich kritisch mit der offiziellen Militär-und Außenpolitik auseinanderzusetzen. So soll der Gewöhnung an Krieg und Gewalt entgegengewirkt werden. Die Meinungsmehrheit gegen den Afghanistankrieg, aber auch gegen andere Kriegseinsätze soll bestärkt und erweitert werden. Der politische Druck auf die Regierenden zur Beendigung des Kriegs muss erhöht werden. Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein. Eine andere Politik ist möglich:

DEM FRIEDEN EINE CHANCE – TRUPPEN RAUS AUS AFGHANISTAN

Kassel, Berlin, Frankfurt, Hamburg usw., im August 2011




Nachbemerkung

Wie wichtig und richtig die Forderung der Friedensbewegung nach sofortigem und bedingungslosem Anzug der fremden Truppen aus Afghanistan ist, zeigt der jüngste Bericht der Nachrichtenagenturen, hier in der Zusammenfassung der "jungen Welt" vom 17. September 2011:

Morden, foltern, vergewaltigen

Neue Berichte über Verbrechen der NATO-Hilfstruppen in Afghanistan

Nach Enthüllungen von Menschenrechtsorganisationen und der UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (UNAMA) über Folterungen, Vergewaltigungen und Morde durch die Verbündeten der NATO-Besatzungstruppen in dem zentralasiatischen Land fordern Bundestagsabgeordnete ein Umdenken. Der Verteidigungsexperte der Linkspartei, Paul Schäfer, sagte der Nachrichtenagentur dapd, die Zusammenarbeit mit den Milizen müsse unverzüglich eingestellt werden. Sein Kollege von den Grünen, Omid Nouripour, bezeichnete den Aufbau regulärer Sicherheitskräfte als alternativlos. »Der Rückgriff auf kurzfristige Placebos wie die Hilfsmiliz Afghan Local Police (ALP) droht, mittelfristig die Stabilisierung zu konterkarieren.«

Den Berichten zufolge soll die ALP schwerste Verbrechen begangen haben, auch in Gebieten, in denen die deutsche Bundeswehr verantwortlich sind. Die im Sommer 2010 aufgebaute Truppe wird von den Besatzern als Hilfstruppe im Kampf gegen die Taliban eingesetzt. Opfer, Dorfälteste und lokale Regierungsvertreter haben gegenüber Menschenrechtsorganisationen geschildert, wie die ALP wütet: Erpressung, Raub, Massenvergewaltigung und Mord seien an der Tagesordnung.

Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Berlin behauptete am Freitag (16. Sept.), daß es keine Kooperation deutscher Truppen mit Milizen gebe, da diese und die ALP der afghanischen Seite unterstünden. Doch bei der Schlacht um den Ort Shahabuddin im September vergangenen Jahres kämpften ALP-Milizen und Bundeswehr gemeinsam gegen die Taliban, wie ein Nachrichtenmagazin berichtete. Demnach hätten die deutschen Soldaten genau gewußt, was ihre Kampfgenossen anrichteten.

Der SPD-Politiker Rainer Arnold sprach von einem »schwierigen Abwägungsprozeß«. Würden die »alten Kämpfer« nicht eingebunden, könnten sie sich wieder auf die Seite der Aufständischen schlagen. Für den Linken-Politiker Schäfer ist dagegen die sofortige Beendigung der Kooperation mit den Milizen zwingend.

Die UN-Unterstützungsmission hatte vergangene Woche in einem Geheimbericht »alltägliche und systematische Folter« in Gefängnissen der Polizei und des Geheimdienstes NDS kritisiert. Dies hatte die britische BBC gemeldet. Für die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte sind auch deutsche Polizisten und Feldjäger zuständig.
(dapd/jW)

Terminhinweis:

10 Jahre Krieg in Afghanistan:

Bilanz und Anklage

Freitag, 7. Oktober, 17.00 - 20.30 Uhr


Berlin, IG Metall-Haus, Alte Jakobstr. 149
(U-Bhf Hallesches Tor)

Veranstalter: Bundesausschuss Friedensratschlag

Und am Samstag, 8. Oktober:

PROTESTMARSCH ZUM KANZLERAMT:
TRUPPEN ABZIEHEN - SOFORT UND BEDINGUNGSLOS

Veranstalter: FRIKO Berlin




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