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Der Krieg wird verloren

US-Militärs fordern von Europäern mehr »Engagement« in Afghanistan. Briten mahnen Geschlossenheit an. UN-Generalsekretär warnt vor weiterer Gewalteskalation

Von Rainer Rupp *

Die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten sind dabei, den Krieg in Afghanistan zu verlieren. Das ist der Kern einer soeben veröffentlichten, 143 Seiten umfassenden Bestandsaufnahme der zunehmend prekären Lage der NATO-Interventionskräfte am Hindukusch. Für den Inhalt des Dokuments zeichnen die Größen des britischen Militärestablishments verantwortlich: der ehemalige britische Verteidigungsminister und spätere ­NATO-Generalsekretär Lord George Robertson, der ehemalige Generalstabschef und spätere britische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Jeremy Greenstock, sowie der ehemalige Hohe Kommissar der UNO in Bosnien, Lord Paddy Ashdown, der vergangenes Jahr als Afghanistan-Koordinator von EU und NATO im Gespräch war. Derweil hat am Dienstag in New York der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki Moon, angesichts der beginnenden US- und NATO-Großoffensive im Süden Afghanistans vor der bevorstehenden beispiellosen Eskalation der Gewalt gewarnt.

Im Gegensatz dazu hatte der scheidende NATO-Oberbefehlshaber, US-General John Craddock, in einem am 30. Juni in der Stuttgarter Zeitung veröffentlichten Interview die zögerliche und egozentrische Haltung der Bündnispartner kritisiert und seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, daß mit mehr Soldaten und Militärausbildern der ­NATO der Krieg in Afghanistan doch noch zu gewinnen sei. US-Präsident Barack Obama war nach seinem Amtsantritt zu einer gegenteiligen Meinung gekommen. Nachdem er sich in wochenlangen Gesprächen mit den Spitzen des Pentagon und der US-Geheimdienste ein Bild von der Lage am Hindukusch gemacht hatte, schlußfolgerte er, daß der Krieg dort »militärisch nicht mehr zu gewinnen« sei. Dennoch hat er anschließend der Eskalation nach dem Vorbild im besetzten Irak und der Entsendung zusätzlicher, 17000 Mann starker US-Kampfeinheiten zugestimmt. Die sollen jetzt in ihrer ersten Großoffensive in der südlichen Provinz Helmand zum Einsatz kommen.

»Europas Führer verstecken sich«, wenn es darauf ankomme, konstatierte US-General Craddock. Er macht sich insbesondere über die Bundesregierung lustig, weil die große Probleme damit hat, einen Krieg auch als solchen zu bezeichnen. »Politiker können es nennen, wie es ihnen beliebt. Ich bin ein Militär, und für mich ist es Krieg. Ich denke, wenn Sie deutsche Soldaten fragen, werden sie dasselbe sagen«, erklärte er in der Stuttgarter Zeitung. Der US-General kritisierte das »eingeschränkte Mandat« der Bundeswehr, das einen Kampfeinsatz im »heißen« Süden des Landes - außer im Fall der sogenannten Nothilfe - nicht erlaubt.

»Wir sind dabei, den Krieg zu verlieren, weil die Politiker sich nicht einigen können«, klagte auch Lord Ashdown bei der Vorstellung seines Berichts vor britischen Wehrexperten. »Jeder zieht in eine andere Richtung, und das stellt die größte Gefahr in Afghanistan dar.« Die US-geführte NATO stehe dort vor einer Niederlage, wenn die notwendigen operationellen Änderungen nicht schleunigst eingeführt würden, resümierte Ashdown.

General Craddock zufolge gibt es bei den deutschen und anderen Verbündeten immer noch 73 Einschränkungen für den Kampfeinsatz, die ein koordiniertes Vorgehen enorm erschwerten. »Wir sind doch eine Allianz und müssen auf demselben Spielfeld mit denselben Regeln spielen«, sagte der General und forderte damit die Unterwerfung der Verbündeten unter die amerikanischen Regeln. Die US-Armee nimmt noch weniger Rücksicht auf unbeteiligte Zivilisten als die Bündnispartner. Gerade diese hatte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon am Dienstag verurteilt und darauf hingewiesen, daß »allein im Zeitraum Januar bis Mai dieses Jahres die UN-Hilfsmission für Afghanistan 800 zivile Kriegsopfer gezählt hat«.

Mit 261 toten Zivilisten mußten im Mai die bisher meisten in einem Monat gezählt werden. Immer wieder nehmen US-Kampfflugzeuge mit ihren Raketen und Bomben Menschenansammlungen ins Visier, die fälschlicherweise für Taliban gehalten werden, tatsächlich aber Hochzeitsgesellschaften oder Trauergemeinden sind. Als Beispiel nannte Ban Ki Moon den US-Luftangriff im Mai gegen das Dorf Bala Bulok in der Provinz Farah, bei dem 60 Zivilisten getötet worden waren.

Davon vollkommen unbeeindruckt beschwor Craddocks Nachfolger, US-Admiral James Stavridis, am Dienstag in Stuttgart im Beisein von US-Verteidigungsminister Robert Gates, daß die »Glaubhaftigkeit« der NATO in Afghanistan auf dem Spiel steht. Bei einer Niederlage am Hindukusch hätte Washington am meisten zu verlieren. Zahlreiche US-Denkfabriken und auch der wissenschaftliche Dienst des Kongresses sind sich einig, daß in diesem Fall die US-Führungsposition in Europa beendet wäre, was auch den Niedergang der NATO bedeuten würde.

* Aus: junge Welt, 3. Juni 2009


Wie weiter gegen die Taliban?

Pakistans Regierung fürchtet allgemeinen Aufstand in den Stammesgebieten

Von Knut Mellenthin *

Über den Fortgang des Feldzugs gegen die Taliban in Nordwestpakistan herrscht Unklarheit. Die Ende April begonnene Offensive der pakistanischen Streitkräfte in drei Distrikten der Grenzprovinz NWFP ist anscheinend weitgehend abgeschlossen. Aber es verdichten sich seit mehreren Wochen die Anzeichen für einen unmittelbar bevorstehenden Großangriff auf die sogenannten Stammesgebiete FATA, insbesondere die Bezirke Nord- und Südwasiristan.

Inzwischen haben Regierung und Militärführung der Taliban-Gruppierung um Baitullah Mehsud, die ihren Schwerpunkt in Südwasiristan hat, den Krieg »bis zur Vernichtung« erklärt, auch wenn große Armee-Operationen dort immer noch ausstehen. Auf der anderen Seite ließen die Streitkräfte am Mittwoch (1. Juli) über Nordwasiristan große Mengen Flugblätter abwerfen, in denen versichert wurde, daß in diesem Bezirk keine Offensive geplant sei. Vielmehr werde man sich weiter an das Friedensabkommen halten, das im Februar 2008 mit dortigen Stammesführern geschlossen wurde.

Ebenfalls am Mittwoch griffen aber Kampfhubschrauber ein Dorf in Nordwasiristan an, wobei zwei Frauen und ein Kind getötet wurden. Vier Frauen und zwei Kinder wurden schwer verletzt. Die Aktion war offenbar als »Vergeltung« für den Überfall auf einen Militärkonvoi gemeint, bei dem in Nordwasiristan am Sonntag 30 bis 40 Soldaten getötet worden waren. Ausgeführt hatte diesen Angriff die Gruppierung um Hafis Gul Bahadur, die bis vor kurzem noch als Verbündete der Regierung oder zumindest als neutral gegolten hatte.

Bahadur kündigte inzwischen sein Friedensabkommen mit der Regierung auf. Er begründete das mit den häufigen Drohnen-Überfällen der USA auf Ziele in Nordwasiristan und mit den zunehmenden Angriffen der pakistanischen Luftwaffe gegen die Stammesgebiete. Vor diesem Hintergrund ist die Propagandaaktion der Streitkräfte zu sehen, mit der die Bevölkerung des Bezirks beruhigt werden soll. Die Taktik der Militärführung besteht darin, die unterschiedlichen Kräfte in der Region möglichst lange gegeneinander auszuspielen und sie nacheinander zu zerschlagen. Auf jeden Fall soll ein allgemeiner Aufstand in den Stammesgebieten vermieden werden, der die Streitkräfte vor weit ernstere Herausforderungen stellen würde als die bisherigen Operationen in der Grenzprovinz.

Der Regierung in Islamabad dürfte klar sein, daß auf die Unterstützung der Bevölkerung für die Militäroperationen nur bedingt Verlaß ist und daß diese sehr vom Verlauf und den Folgen der Kriegshandlungen abhängig ist. Einer am Montag veröffentlichten Umfrage zufolge halten 81 Prozent der Pakistani die Taliban für eine schwere Bedrohung ihres Landes. Damit scheint der massiven Regierungspropaganda der letzten Monate ein großer Erfolg gelungen zu sein, denn bei einer Ende 2007 durchgeführten Untersuchung lag dieser Anteil nur bei 34 Prozent. 70 Prozent äußerten in der neuen Umfrage Sympathie für das militärische Vorgehen der Regierung.

Wie weit diese von der University of Maryland (USA) durchgeführte Untersuchung durch geschickt formulierte Fragestellungen beeinflußt war, ist unklar. Wichtig ist auf jeden Fall die Tatsache, daß die Erhebung zwischen dem 17. und 28. Mai durchgeführt wurde, also in einer frühen Phase der Militäroperationen, als deren ganzes Ausmaß noch nicht offensichtlich war. Inzwischen haben insbesondere die Vertreibung von rund drei Millionen Menschen aus den Bürgerkriegsgebieten und die weitgehenden Zerstörungen, die die Offensive hinterlassen hat, auch nach Meinung der überwiegend prowestlich gestimmten englischsprachigen Medien Pakistans für einen Rückgang der Zustimmung gesorgt.

Der erwähnten Umfrage zufolge scheint der Obama-Boom, der angeblich auch viele Moslems angesteckt haben soll, zumindest an Pakistan vorbeigegangen zu sein. Nach den Zielen des neuen US-Präsidenten befragt, gaben 93 Prozent der Teilnehmer an, er wolle der islamischen Welt die amerikanische Kultur aufzwingen. 86 Prozent mißbilligen Barack Obamas Entscheidung, den Afghanistan-Krieg zu eskalieren, 79 Prozent fordern die sofortige Beendigung der NATO-Intervention im Nachbarland.

** Aus: junge Welt, 3. Juni 2009


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