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Afghanistan: Klingt das vertraut?

Von Robert Fisk *

Vor dreissig Jahren marschierte die Sowjetarmee in Afghanistan ein. Die Besetzung dauerte zehn Jahre - der Versuch, eine säkulare Regierung zu etablieren, scheiterte. Nun wiederholt sich die Geschichte.

«Sie haben Russen erschossen», erzählte mir der junge Fallschirmspringer. Es war kalt. Ich traf in der Nähe von Charikar, nördlich von Kabul, auf seinen Verband, die 105. sowjetische Luftlandeeinheit. Er hatte eine verletzte Hand. Das Blut sickerte durch den Verband und befleckte den Ärmel seines Kampfanzugs. Er war noch fast ein Teenager, mit hellem Haar und blauen Augen. Neben uns im Graben lag ein sowjetischer Transportlaster auf dem Dach, die Rückseite völlig zerstört, zerfetzt von einer Mine.

Unter Schmerzen zeigte der junge Mann mit der Hand in Richtung der Berggipfel, über denen ein sowjetischer Helikopter kreiste. Wer hätte damals gedacht, dass wir beinahe dreissig Jahre später wegen des ehemaligen US-Präsidenten George Bush und des früheren britischen Premiers Tony Blair im selben Soldatengrab landen würden? Oder dass ein junger schwarzer US-Präsident genau dieselben Fehler machen würde wie damals die Russen?

In den Wochen nach ihrem Einmarsch in Afghanistan an Weihnachten 1979 beobachtete ich die Sowjetarmee bei ihrem «staged surge», ihrem inszenierten Befreiungszug. Ich sah, wie sie Kabul und die grössten afghanischen Städte einnahm, aber die riesigen Berg- und weiten Wüstengebiete den «Terroristen» überliess. Die Sowjetarmee kündigte an, die afghanische Armee ausbilden zu wollen, und beharrte darauf, eine säkulare, nichtkorrupte Regierung stützen zu können und so der Bevölkerung Sicherheit zu bieten. Klingt das vertraut?

Langer, langer Krieg

Victor Sebestyen, Autor eines Buchs über den Fall des Sowjetimperiums, hat viel über die Zeit kurz nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee geschrieben. Dabei zitierte er auch aus der Rede, die General Sergei Achromejew, damals Kommandant der sowjetischen Streitkräfte, 1986 vor dem sowjetischen Politbüro hielt: «Jeder Fussbreit Land in Afghanistan war irgendwann von unseren Soldaten besetzt. Trotzdem bleibt ein grosser Teil des Gebiets in den Händen der Terroristen. Wir kontrollieren die Provinzzentren, aber wir können die Kontrolle über die eroberten Gebiete nicht behaupten.»

Sebestyen schreibt auch, dass Achromejew damals zusätzliche Truppen verlangte - ohne die der Krieg in Afghanistan noch «sehr, sehr lange» dauern würde. Klingt das vertraut? «Unsere Soldaten trifft keine Verantwortung. Sie haben unter schwersten Umständen unglaublich tapfer gekämpft. Aber in einem so weitläufigen Land, in dem die Widerstandskämpfer jederzeit in den Bergen untertauchen können, bringt es wenig, Städte und Dörfer nur kurzfristig zu besetzen.» Diese Aussage von Achromejew könnte genauso gut von einem US-amerikanischen oder britischen Kommandanten der heutigen Besatzungstruppen in Helmand stammen.

Ich habe zugesehen, wie die Tragödie in diesen trostlosen Monaten des Frühjahrs 1980 ihren Lauf nahm. In Kandahar skandierten die Menschen «Allahu akbar» von den Dächern ihrer Häuser und auf den Strassen ausserhalb der Stadt. Ich sprach mit Widerstandskämpfern der Mudschaheddin, den Taliban jener Zeit, die die sowjetischen Konvois bombardierten. Nördlich von Dschalalabad hielten sie gar einmal meinen Bus an. In den Mündungen ihrer Kalaschnikows steckten rote Rosen. Sie holten kommunistische StudentInnen aus dem Fahrzeug, und ich wagte es nicht, mir über deren weiteres Schicksal Gedanken zu machen. Es wird sich kaum von jenem unterschieden haben, das regierungsfreundlichen afghanischen StudentInnen droht, wenn sie heute den Taliban in die Hände fallen. Kurz zuvor hatten die Mudschaheddin - die «Lieblingsfreiheitskämpfer» des damaligen US-Präsidenten Ronald Rea­gan - eine Schule zerstört, weil dort auch Mädchen ausgebildet worden waren. Die verbrannten Leichen des Schulvorstehers und seiner Frau baumelten an einem Baum.

Und schon damals erzählten auch die AfghanInnen die wildesten Geschichten: So wurden politische Gefangene heimlich aus dem Land geschafft und in der Sowjetunion gefoltert. Klingt das vertraut?

Leere Versprechen

In Kandahar hatte mich ein Ladenbesitzer auf der Strasse angesprochen, ein gebildeter Mann um die fünfzig, der einen Pullover nach europäischer Mode und einen afghanischen Turban trug. Ich besitze noch immer meine Gesprächsnotizen. «Jeden Tag verspricht uns die Regierung, dass die Lebensmittelpreise sinken werden», erzählte der Mann. «Jeden Tag versuchen sie uns weiszumachen, dass nun dank der Sowjetunion alles besser werde. Aber das ist nicht wahr.» Die Regierung sei nicht einmal in der Lage, die Strassen zu kontrollieren. «Sie kann sich nur in den Städten halten.» Die Mudschaheddin, sagte der Mann, würden Helmand heimsuchen und sich völlig frei über die pakistanische Grenze bewegen - genau wie die Taliban heute.

Und vielleicht sollte jemand einmal den jungen US-SoldatInnen, die die Drohnen kontrollieren, die heute regelmässig in Pakistan Angriffe fliegen, ein paar vertraute Geschichten erzählen: etwa die von Anang 1980, als ein sowjetischer Kampfjet über pakistanisches Gebiet flog, um dort die Guerilla anzugreifen, und wie die pakistanische - und natürlich auch die US-amerikani­sche - Regierung das als eklatante Verletzung der pakistanischen Souveränität verurteilten. Oder über das Schicksal früherer sowjetischer Soldaten, die ich vor einigen Jahren in Moskau traf und von denen viele inzwischen den Drogen verfallen sind oder die bis heute unter einer posttraumatischen Belastungsstörung durch ihre Kriegserlebnisse leiden.

* Robert Fisk ist Nahostkorrespondent der britischen Zeitung «The Independent».

Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 24. Dezember 2009



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