Mysteriöser "Zusammenstoß" in Shirgel
Auf den Spuren eines Überfalls auf ein kleines Dorf im Osten Afghanistans
Von Carla Lee, Ghani Khel *
In den frühen Morgenstunden des 29. April wurde das kleine umzäunte Dorf Shirgel im Distrikt Ghani Khel der afghanischen Ostprovinz Nangarhar von USA-Truppen überfallen.
»Wir schwören: Da war nicht ein einziger aufständischer Kämpfer, und schon gar keine Waffen. Wir
schliefen, als wir von einer Bombenexplosion geweckt wurden.« Rund zehn Dorfbewohner
bestätigen einmütig: »Keine Militanten, keine Waffen!«
An jenem Morgen wurden sechs Menschen getötet, darunter ein Ehepaar samt Tochter. Zu den drei
Verletzten gehörten zwei Mädchen im Alter von 3 und 5 Jahren. Die Dreijährige mit eingegipstem
Arm gehört zur Familie des getöteten Paares. Geblieben ist ihr nur ein 18-monatiger Bruder, der
während meines Besuchs ständig schreit. Ein älterer Bruder, der 30-jährige Akbar Shah, wurde nach
dem Überfall von den »Koalitionstrupppen« verschleppt. »Er ist kein Kämpfer, nur ein einfacher
Mann, der hier sein Land bewirtschaftet. Die Familie kam vor zwei Jahren aus der Provinz Kapisa.
Wir hatten alle ein gutes Verhältnis zu ihr«, sagt ein Dorfbewohner, und die anderen nicken.
Die USA-geführten Koalitionstruppen dagegen veröffentlichten einen Bericht unter der Überschrift
»Zivilisten gerieten ins Kreuzfeuer einer SVBIED-Zelle.« SVBIED steht für Suicide Vehicle Borne
Improvised Explosive Device und bezeichnet ein mit Sprengsatz präpariertes Selbstmord-Fahrzeug.
In dem Bericht wird behauptet: »Koalitions- und afghanische Truppen unternahmen am 29. April
eine Operation zur Festnahme einer im Kreis Bani Kot in der Provinz Nangarhar operierenden
SVBIED-Zelle. Während der Operation gerieten die Koalitionstruppen bei dem Versuch, in ein
befestigtes Dorf einzudringen, unter das Feuer leichter Waffen einiger Aufständischer. Die
Koalitionstruppen erwiderten das Feuer und töteten dabei vier Aufständische.«
Die Einheimischen bezeugen, dass alle Getöteten Zivilisten waren. Ihnen zufolge begann die
Operation gegen 2 Uhr nachts und dauerte bis 4.30 Uhr in der Frühe. Mit einer Bombenexplosion
vor dem Tor begann der Angriff, dann kletterten die USA-Soldaten mit Leitern über die hohe Mauer
und feuerten »wahllos« ins Dorf. Übereinstimmend berichten die Bewohner, afghanische Truppen
hätten sie nicht entdeckt, nur einen Übersetzer in Uniform.
Janat Gul (50), der wohl zum Tor gegangen war, um es zu öffnen, weil er Klopfen gehört hatte, war
das erste Opfer: Er fiel zehn Meter vom Tor entfernt. Sollte er einer der vier Aufständischen
gewesen sein, auf denen die USA-Truppen bestehen? Er war aber unbewaffnet und die
Dorfbewohner bekräftigen vehement. »Er ist ein Verwandter der getöteten Familie. Sie kamen alle
zusammen hierher. Er ist kein Aufständischer.«
Als nächste starben Barakot Shah (45), seine Frau Gul Bigame (45) und die 16-jährige Tochter
Qamari Shah. Sie schliefen im Freien, nur fünf Meter vom Todesort Janat Guls entfernt. Ein weiteres
Opfer, der 35-jährige Ibrahim, »wurde beim Weglaufen angeschossen und starb im Gras«. Eine
Zeugin sagt aus, auch er sei unbewaffnet gewesen. Die Umstände des Todes des 30-jährigen Abdul
Nasir sind unklar. »Es herrschte Chaos. Er scheint außerhalb des Tores getötet worden zu sein.«
War er einer der vermeintlichen Kämpfer? Aber es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass er bewaffnet
geschweige denn an einem Schusswechsel beteiligt war. Und die Einheimischen bestehen darauf:
Auch er war kein Aufständischer.
Nichts lässt erkennen, dass die vier Männer unter den sechs Toten Kämpfer waren, die – glaubt
man dem USA-Bericht – das Feuer auf die Truppen eröffnet hätten. Behauptet wird, es habe »glaubwürdige Hinweise« darauf gegeben, dass die Zelle in den nächsten Wochen drei
Selbstmordattentate auf Koalitionstruppen plante. Ein Polizist, der ungenannt bleiben wollte, wusste
von Gerüchten, wonach ein Einheimischer den Truppen Falschinformationen geliefert hat. Auch die
Angriffe in der Provinz Herat, wo USA-Bomber Ende April mindestens 51 Zivilisten töteten, sollen
durch Falschinformationen ausgelöst worden sein.
Die letzten beiden Aprilwochen waren die verlustreichsten dieses Jahres in Afghanistan: Sie
kosteten 90 Zivilisten das Leben. »Zufällig« wurden alle durch USA-Truppen umgebracht. Deren
Reaktion auf die Vorfälle war meist: »Es gibt keine Berichte über zivile Opfer« oder »Von zivilen
Verlusten ist uns nichts bekannt«. Im Falle Shirgel hieß es immerhin: »Wir bedauern die Verluste an
zivilem Leben.«
Als ich das Dorf am 3. Mai besuchte, hatte sich noch niemand hierher bemüht, um den Vorfall zu
untersuchen. Die Gegend gilt als »No-Go-Area« – ein Gebiet, um dessen Bewohner sich eben nur
die Militärs kümmern. Ein Sprecher der Provinzregierung wiederholte nur den USA-Bericht, wonach
es »einen Schusswechsel mit den Truppen« gab und »zwei Aufständische verhaftet wurden«.
Festzuhalten bleibt, dass es keine glaubwürdige Erklärung für den offenbar erfundenen
Zusammenstoß und dessen »Kollateralschäden« gibt.
Die koreanische Journalistin Carla Lee lebt z.Zt. in Afghanistan.
* Aus: Neues Deutschland, 12. Mai 2007
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