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Fast 60 Tote bei Anschlägen in Afghanistan

Angriffe auf Schiiten-Fest *

Fast 60 Tote bei Anschlägen in Afghanistan Angriffe auf Schiiten-Fest / Taliban bestreiten Verantwortung Bei zwei Anschlägen auf Schiiten in Afghanistan sind am Dienstag (6. Dez.) mindestens 59 Menschen getötet worden. Allein in der Hauptstadt Kabul starben nach Behördenangaben mindestens 55 Menschen, als sich ein Attentäter inmitten einer schiitischen Feiertagsprozession in die Luft sprengte.

Die Anschläge ereigneten sich einen Tag nach der Bonner Afghanistan-Konferenz, bei der zehn Jahre nach dem Sturz der Taliban über die Zukunft des Landes beraten wurde. Der Selbstmordattentäter in Kabul sprengte sich vor einem wichtigen schiitischen Heiligtum in die Luft, wo sich Hunderte Gläubige zu einer Prozession zum Höhepunkt des schiitischen Aschura-Festes versammelt hatten. Nach Angaben des Innenministeriums wurden mindestens 55 Menschen getötet und 134 Menschen verletzt. Es war der schlimmste Anschlag in Kabul seit einem Attentat auf die indische Botschaft im Juli 2008. Am Anschlagsort stapelten sich Leichen. Der Anschlag ereignete sich während einer Prozession, bei der sich gläubige Männer als Zeichen der Trauer um den Tod des Mohammed-Enkels Imam Hussein mit Ketten selbst geißeln.

Bei einem weiteren Anschlag vor einem Schiiten-Heiligtum im Stadtzentrum von Masar-i-Scharif wurden nach Polizeiangaben mindestens vier Menschen getötet und vier weitere verletzt. Der Anschlag wurde durch einen an einem Fahrrad angebrachten Sprengsatz ausgelöst.

Eine pakistanische Terrororganisation bekannte sich zu den Anschlägen. Das teilte ein Sprecher der Organisation Lashkar e-Jhangvi al-Alami am Dienstag der Nachrichtenagentur dpa im pakistanischen Peshawar mit.

Bundeskanzlerin Angela Merkel bekundete Afghanistans Präsident Hamid Karsai bei einem Treffen in Berlin ihr Beileid. Die Ereignisse zeigten, »wir müssen weiter hart arbeiten, um die Sicherheit in Afghanistan gewährleisten zu können«, sagte sie.

* Aus: neues deutschland, 7. Dezember 2011


Taliban bestreiten Verantwortung

Sprecher der Aufständischen: Attentate sind "unmenschlich und unislamisch" **

Die Taliban haben jede Verantwortung für die beiden Terroranschläge gegen Angehörige der schiitischen Minderheit in Afghanistan bestritten.

Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid hat die Angriffe in der Hauptstadt Kabul und in der nordafghanischen Stadt Masar-i-Scharf am Dienstag (6. Dez.) in einer Erklärung als »unmenschlich und unislamisch« verurteilt. Die Aufständischen würden es nicht zulassen, dass die Sicherheit der Afghanen im Namen von Religion oder Stammeszugehörigkeit gefährdet werde. Bei dem Selbstmordanschlag auf einen schiitischen Schrein in Kabul wurden nach jüngsten Polizeiangaben über 50 Menschen getötet und mehr als 100 weitere verletzt. In der Stadt Masar-i-Scharif starben mindestens vier Menschen, als in der Nähe einer schiitischen Moschee eine weitere Bombe explodierte. Hinter den Taten werden sunnitische Extremisten vermutet.

Der afghanische Geheimdienst NDS hat nach einem Bericht der »Bild«-Zeitung angeblich mit den Aufständischen kooperiert, die einen Schützenpanzer der Bundeswehr in Nordafghanistan in die Luft gesprengt haben. Bei dem Anschlag im Juni in Baghlan waren ein deutscher Soldat getötet und fünf weitere verletzt worden.

Wie das Blatt am Dienstag unter Berufung auf einen als geheim eingestuften Ermittlungsbericht der Bundeswehr berichtet, sei der Anschlag nach Angaben mehrerer zuverlässiger Quellen »von der Gruppe von Qari Naim geplant und durchgeführt« worden. »Mehrere Berichte zeigen, dass der NDS Verbindungen zu den Aufständischen ... hat«, zitiert »Bild« weiter aus dem Bericht. Ein Sprecher des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr in Potsdam äußerte sich dazu nicht.

Bei Qari Naim soll es sich um einen Kommandeur der Aufständischen in der Region Baghlan handeln. In einem vertraulich eingestuften Bericht der Bundeswehr vom Dezember 2010 heiße es: »Der amtierende Chef des NDS des Distrikts Baghlan steht unter Verdacht, Familienangehörige, die dem Aufständischen-Netzwerk um Qari Naim zuzuordnen sind, mit Waffen und Munition zu unterstützen ... Aufgrund dieser familiären Verhältnisse werden die Aufständischen ... durch den NDS nicht strafrechtlich verfolgt oder verhaftet.«

Nach der Afghanistan-Konferenz in Bonn hat der kirchliche Friedensbeauftragte Renke Brahms dazu geraten, beim Aufbau am Hindukusch vermehrt die Zivilgesellschaft einzubeziehen. »Es reicht nicht, allein auf die Regierung des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai zu setzen«, mahnte der Beauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland am Dienstag gegenüber epd. Die zivilgesellschaftlichen Kräfte seien stark und weit verästelt bis in regionale und lokale Ebenen.

** Aus: neues deutschland, 7. Dezember 2011


Faire Ausbeutung

Von Rüdiger Göbel ***

Was für ein Timing! Nur einen Tag nach der internationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn hat die von der NATO gestützte Regierung in Kabul mit der Ausschreibung für die Erschließung von Gold- und Kupfervorkommen begonnen. »Afghanistan ist geologisch gesehen ein reiches Land. Die Untersuchung eines nur kleinen Teils der Fläche unseres Landes zeigt, daß es ein beachtliches Potential für Mineralressourcen gibt«, schwärmte Wahidullah Shakrani, Minister für Bergbau, bei der Bekanntgabe des Ausverkaufs am Dienstag. Das US-Außenministerium geht davon aus, daß die afghanischen Bodenschätze einen Wert von einer Billion Dollar (744 Milliarden Euro) haben.

»Die Regierung der Islamischen Republik Afghanistan beginnt eine Privatisierung und ein Lizenzprogramm für vier seiner Mineralprospektionen«, so Shakrani. Konkret soll mit der Erkundung und Rohstoffausbeutung in den Provinzen Badachschan, Ghasni und Herat begonnen werden sowie einem vierten Gebiet, das die Provinzen Balch und Sar-i-Pul umfaßt. Investoren verspricht Shakrani: »Das Land verfügt über ein vorteilhaftes Regierungs- und Finanzsystem«, für die Rohstoffausbeute seien »entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen«.

Die Organisation Transparency International sah in der vergangenen Woche bei der Veröffentlichung ihrer jährlichen Weltrangliste korrupter Staaten, trotz unzähliger Beteuerungen der von Hamid Karsai geführten Regierung in Kabul, die Korruption im Land bekämpfen zu wollen, keine Veranlassung, seine Einschätzung zu ändern. Afghanistan bleibt auf dem vorletzten Platz der Liste. Abgesichert wird das »vorteilhafte Regierungs- und Finanzsystem« in Kabul von Zehntausenden Besatzungssoldaten unter NATO-Kommando, die auf nicht absehbare Zeit am Hindukusch stationiert bleiben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) freute sich ob dieser schönen Nachrichten aus dem Kriegsgebiet. Nach der Afghanistan-Konferenz empfing sie am Dienstag in Berlin Präsident Karsai zu einem »Arbeitsfrühstück«. Beide gaben im Anschluß bekannt, ihre Zusammenarbeit über 2014 hinaus in einem bilateralen Partnerschaftsabkommen regeln zu wollen. Sie könne sich »gut vorstellen, daß hier neben Verpflichtungen zum weiteren Training von Sicherheitskräften das Thema Berufsausbildung eine wichtige Rolle spielt. Ich denke, die Jugend Afghanistans muß eine Zukunft haben«, so die Kanzlerin. Dann folgte Klartext: In diesen Zusammenhang gehöre auch »eine faire Ausbeutung oder Erschließung der afghanischen Rohstoffe«, so Merkel weiter. Die BRD muß auch nicht bei Null anfangen: Ein Team deutscher Geologen führte bereits Mitte der 1960er Jahre eine Erkundungsuntersuchung.

Überschattet wurden die Gespräche über den Zugang und die Ausbeutung der Rohstoffe am Hindukusch von brutalen Selbstmordattentaten. Polizeiangaben zufolge wurden in Kabul bei einem Anschlag vor einem schiitischen Heiligtum nahe des Präsidentenpalastes mehr als 50 Menschen getötet, darunter auch Kinder. Auch in Masar-i-Scharif und Kandahar gingen Bomben hoch. Zu den Anschlägen bekannte sich zunächst niemand. Die Taliban verurteilten die Bluttaten in einer Erklärung.

*** Aus: junge Welt, 7. Dezember 2011





Bomben und Tränen

Von Roland Etzel ****

Die NATO, so war gestern zu erfahren, hat die Selbstmordanschläge vom selben Tage in Afghanistan verurteilt. Das ist recht ehrenwert, wenngleich es, bei Lichte besehen, nichts grundsätzlich anderes ist als die Wehklage darüber, dass es beim Nachbarn, dem man mutwillig das Dach zerstört hat, nun reinregnet. Wie das afghanische Trauerspiel begann und sich heute darstellt, ist weithin bekannt, insbesondere natürlich dem kommandierenden US-General. Man kann also nicht nur, man muss, sofern General Allen nicht Amnesie vorschützen kann, von Lüge und Heuchelei sprechen.

Was Amnesie und Heuchelei betrifft, mochte die Bundesregierung den General nicht allein stehen lassen. Außenminister Westerwelle erklärte, die internationalen Gemeinschaft werde sich nicht davon abbringen lassen, »den friedlichen Weg der weiteren Stabilisierung und des Aufbaus des Landes fortzusetzen«. Er zeigte sich »zutiefst erschüttert«, was allerdings nicht als Absolution dafür gelten kann, in einem relativ kurzen Satz wie diesem so viele haltlose Behauptungen unterzubringen.

Der »friedliche Weg«, über den sich die »internationale NATO-Gemeinschaft« wie gerade jüngst in Bonn so gern verbreitet, war in der Vergangenheit von Bomben, Drohnen und Granaten flankiert. Da auf dem Petersberg keine Strategieänderung beschlossen wurde, wird es sie also weiter geben: die Bomben, die Lügen und auch die Krokodilstränen.

**** Aus: neues deutschland, 7. Dezember 2011 (Kommentar)


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