Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Afghanistan: Was läuft falsch in dem besetzten Land?

Von Conrad Schetter*

«Der Drachenläufer» von Khaled Hosseini ist ein viel gelesener Bestseller. Ausgangspunkt des Buches sind die bunten Drachen, die man am Kabuler Himmel beobachten kann. AusländerInnen, die mit einem solchen Papierdrachen am Flughafen ankommen, werden von den afghanischen Offiziellen fröhlich darauf angesprochen. Mittlerweile aber scheinen die Drachen das letzte positiv besetzte Bindeglied zwischen den AusländerInnen und den Afghanen zu sein. Denn Afghanistan ähnelt einem grossen Umerziehungslager, in dem zahlreiche Organisationen bemüht sind, moderne Werte und Normen zu verankern. Dies hat jedoch eine Verringerung des afghanischen Selbstwertgefühls zur Folge. Kein Wunder, dass in den vergangenen Monaten die Stimmung in der Bevölkerung kippte und die einst freudig begrüssten Befreier zunehmend als Besatzer wahrgenommen werden.

Die Widersprüche und Probleme der Intervention von 2001 - die Konzeptlosigkeit oder die fehlende Koordinierung von Friedens- und Kampfeinsätzen - sind vielfach bemängelt worden. Weniger thematisiert wurden bisher dagegen die direkten Auswirkungen der Intervention auf die afghanische Gesellschaft. Man wolle dem Terrorismus den Boden entziehen und die Organisationsstrukturen von al-Kaida und den Taliban zerschlagen - mit diesem Argument war die Intervention begründet worden. Dazu dürfe man aber nicht nur militärische Gewalt anwenden, sondern müsse auch die zivile Butterseite zeigen. Nur durch eine Modernisierung der afghanischen Gesellschaft könne dem militanten Islamismus die gesellschaftliche Legitimation entzogen werden. Die AfghanInnen - so die Idee - sollten sich eher dem westlichen Gesellschaftsmodell als dem der Taliban verbunden fühlen.

Die Folge dieses Modells: Nahezu alle AusländerInnen in Afghanistan gehen von der Überlegenheit der westlichen gegenüber der afghanischen Gesellschaftsorganisation aus. Heraus kam dabei eine Entwick-lungspolitik, die Afghanistan mit Vehemenz und im Eilverfahren in die Moderne katapultieren soll. «Willkommen im Mittelalter», sagen EntwicklungshelferInnen in Afghanistan noch heute. Doch seit 2004 widersetzen sich immer mehr Afghanen einer Strategie, die ihrer Gesellschaft einen Eigenwert abspricht und ihre facettenreiche Kultur ignoriert. Mittlerweile halten sie dem Westen den Spiegel vor und werfen gleich allen Entwicklungsorganisationen Korruption, Ineffizienz und Selbstbereicherung vor.

Was ist da falsch gelaufen? Mit beigetragen zur Entfremdung und Sprachlosigkeit zwischen Afghanen und internationalen AkteurInnen hat die teilweise bewusst geplante Zerstörung des afghanischen Selbstwertgefühls. Afghanistan diente in der westlichen Wahrnehmung bereits zu Zeiten der Taliban als Gegenentwurf zur modernen Gesellschaft: Fast nirgendwo sonst sind die Mann-Frau-Beziehungen so ungerecht und so diskriminierend, kaum irgendwo sonst werden Machtstrukturen so sehr durch Gewaltandrohung hergestellt. Die Art und Weise aber, mit der die strukturellen Veränderungen herbeigeführt werden sollten - häufig direkt und ungeschminkt - hat dazu geführt, dass viele Afghanen ihre Identität nicht respektiert sehen.

Erschütternd ist vor allem, mit welcher Unbedarftheit der Wiederaufbau stattfindet. So wurde übersehen, dass die Geschichte Afghanistans seit langem vom Gegensatz zwischen Moderne und Tradition geprägt ist, und dass dieser sich immer wieder gerade an der Geschlechterfrage und den Machtstrukturen entlud. Die Abschaffung des Brautpreises war ausschlaggebend für die Aufstände gegen die kommunistischen Herrscher 1978/79: Die Mudschaheddin betrachteten Kabul aufgrund der emanzipatorischen Politik der KommunistInnen als Sündenbabel. In ähnlicher Weise war auch der Begriff Demokratie, den die Kommunisten ständig im Munde führten, hoch politisiert. Die Themen, mit denen die internationale Gemeinschaft gegenwärtig hausiert, sind also seit Jahrzehnten Kristallisationspunkte des Konflikts zwischen den politischen Lagern in Afghanistan.

Viele Afghanen nehmen den Umerziehungsversuch als externe Einflussnahme wahr. Entsprechenden Versuchen hatten ihre Vorfahren seit je getrotzt - vom 16. Jahrhundert (gegen die Moguln) bis in die achtziger Jahre (gegen die Sowjets). Sofern Mittel anzuzapfen sind, zeigen sie sich nach aussen hin kooperativ und sprechen die Sprache der intervenierenden Macht, gegenüber einem Werte- und Gesellschaftswandel ist man aber resistent. Sobald die Einflussnahme gegenüber dem Ressourcenzufluss überwiegt, schlägt jedoch das Pendel in die andere Richtung aus. Dieser Punkt scheint derzeit wieder erreicht.

Dazu kommt, dass die letzten Konfrontationen - US-Soldaten antworten auf Steinwürfe mit tödlichen Schüssen in die Menge und liefern sich im Süden des Landes mit den Taliban blutige Gefechte, bei denen dann vor allem Zivilisten auf der Strecke bleiben - wieder einmal demonstrieren, was sich hinter der humanen zivilgesellschaftlichen Maske der Befreier verbirgt: die Fratze der Besatzer. Ein Wiederaufbau in Afghanistan kann nur gelingen, wenn man die afghanischen Wertvorstellungen ernst nimmt und respektiert - auch wenn sie vom globalen Mainstream abweichen.

* Aus: Wochenzeitung WOZ, 1. Juni 2006


Zu weiteren Beiträgen über Afghanistan

Zurück zur Homepage