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Patient ist Patient

Karla Schefter leitet ein Krankenhaus im afghanischen Chak

Von Lutz Debus *

Kann man in einer westfälischen Großstadt etwas über eine zentralasiatische Krisenregion lernen? Wer Karla Schefter besucht, wird diese Frage bejahen. Die 69-Jährige trägt ein dunkles, derbes Gewand aus Wolle, auch hier, in ihrer kleinen Wohnung in der südlichen Innenstadt von Dortmund. Halb sitzt sie, halb liegt sie auf ihrem Sofa, eine Körperhaltung, die an einen Sultan erinnert. Neue Möbel hat die Frau in den vergangenen Jahrzehnten nicht angeschafft. Dafür nutzt sie ihr Domizil in Deutschland zu selten, oft nur einige Wochen im Jahr. Überall an den Wänden hängen Tücher und Decken. Auf dem Couchtisch breitet sie Fotos von ihrem nun schon über 20 Jahre währenden Leben in Afghanistan aus. Ein Mann mit Turban, der ein Kind mit Kopfverband auf seinem Arm hält, ist zu sehen. Auch verschleierte Frauen, über Lehrbücher gebeugt. »Die Fotos habe ich selbst gemacht«, erklärt Karla Schefter knapp. Im ersten Moment wirkt die gelernte OP-Schwester schroff, verhärmt, abweisend. Aber nur im ersten Moment. Das, wovon sie zu berichten hat, zeugt von großem Engagement.

Seit 1989 lebt Karla Schefter in Afghanistan, leitet in Chak in der Provinz Wardak ein Krankenhaus, das sie selbst mit aufgebaut hat. Ihren Weg in das Land, in dem während des Krieges und nach dem Abzug der sowjetischen Truppen ein blutiger Bürgerkrieg wütete, beschreibt sie mit leiser, aber bebender Stimme: »Ich kam illegal über Pakistan nach Afghanistan, zusammen mit zwei Ärzten bin ich unter einer grauen Decke auf der Ladefläche eines LKW ins Land geschmuggelt worden.«

Seit dieser Zeit trägt Karla Schefter einen afghanischen Männeranzug. So falle sie nicht als Fremde auf. Außerdem sei diese Kleidung praktisch, die Einheimischen tragen sie tags wie nachts. »Wir waren zwei Tage unterwegs, um zum ersten Einsatzort zu kommen. Es gab Bombardements. Und wir mussten wegen der Minen aufpassen.« Die Helfer aus Deutschland wurden dann in einem verlassenen, halb verfallenen Mudschaheddin-Stützpunkt untergebracht. »Ich teilte mir mit vier Männern ein Zimmer und mit 18 Männern ein Plumpsklo«, erzählt Karla Schefter. Jeden Tag gab es Reis mit Linsen.

35 Kilometer waren die Mediziner von der Hauptfront des Bürgerkriegs entfernt und mussten deshalb unzählige Verletzte versorgen. »Die sind uns unter der Hand gestorben. Wir hatten keine Transfusionen, keine Möglichkeit der Inkubationsnarkose. Viele sind einfach ausgeblutet. Operiert haben wir mit Hilfe von Taschenlampen und Laternen.« Diese unhaltbare Situation gab dann den Ausschlag für die Entscheidung, an dieser Stelle ein Krankenhaus zu errichten, in Chak, 70 Kilometer südwestlich von Kabul.

Die Grundsteinlegung erfolgte im August 1989. Karla Schefter hatte sich von der Klinik in Dortmund, bei der sie in leitender Position angestellt war, nur für ein Jahr dienstbefreien lassen. Eine Verlängerung war nicht möglich, und so kündigte sie. Doch kurz darauf war das Deutsch-Afghanische Komitee, das das Krankenhaus in Chak betreiben sollte, zahlungsunfähig, weil der Vertrag mit der Europäischen Union auslief. So war sie zunächst arbeitslos. Kurzentschlossen gründete sie mit sechs Mitstreitern in Deutschland ein neues Komitee. Jeder gab aus eigener Tasche 5000 DM. Mit den 30 000 DM reiste Karla Schefter wieder nach Chak, konnte das Krankenhaus mit acht Mitarbeitern über Wasser halten.

Zunächst war das Krankenhaus eher ein Provisorium. Fünf Jahre lang gab es kein Auto und keine Elektrizität, 15 Jahre lang kein Telefon. Wenn nach zwei Monaten per Kurier ein Brief aus Pakistan eintraf, war dies eine Sensation. »An einen Druckkochtopf hat unser Mechaniker eine Spirale angelötet, und so konnten wir destilliertes Wasser herstellen«, erinnert sich Karla Schefter.

Insgesamt hat das Krankenhaus vier Regierungswechsel, die jeweils mit kriegerischen Auseinandersetzungen verbunden waren, überstanden. Die Klinik wurde rätselhafterweise immer verschont. »Vielleicht, weil wir streng unparteiisch sind«, mutmaßt Karla Schefter. Selbst jetzt behandelt das Krankenhaus sowohl Regierungssoldaten wie auch Taliban. »Mein Chef in Dortmund pflegte zu sagen, dass er auch nicht frage, ob das ein CDU-Blinddarm oder ein SPD-Blinddarm ist. Patient sei Patient.«

Schubladendenken ist Karla Schefter verhasst. »Nicht alle Afghanen sind Taliban. Und bei den Taliban gibt es studierte Geistliche und politische Extremisten. Die Extremisten berufen sich zwar auf den Koran, sind dabei aber nicht ehrlich.« Im Koran stehe nicht, dass Mädchen keine Bildung haben sollen, die Frau von Mohammed sei gebildet gewesen.»Ich unterscheide zwischen Terroristen und Taliban. Nicht jeder Terrorist ist Taliban, und nicht jeder Taliban ist Terrorist.« Während der Taliban-Herrschaft, so Karla Schefters Erfahrung, habe man sicher reisen können. Kidnapping, Selbstmordattentate, all das, was inzwischen zum Alltag gehört, habe es zu jener Zeit nicht gegeben. »Wenn man jetzt von den Taliban spricht, meint man oft kleine Gruppen bewaffneter Kämpfer mit einem Kommandanten, die Gruppen aber sind untereinander nicht einig.« Viele Kriminelle, denen es nur ums Geld ginge, würden sich Taliban nennen.

Das Grundproblem des Landes sieht Karla Schefter in der Zerstörung der Gesellschaft. Nach 30 Jahren Krieg könne von Normalität nicht mehr die Rede sein. Die Elite habe, sobald die Situation besonders kritisch wurde, das Land verlassen können. Viele blieben für immer im Ausland. Der Bildungssektor brach zusammen. 85 Prozent der Afghanen seien deshalb Analphabeten. In den sechs Jahren der Talibanzeit war es Frauen gänzlich unmöglich, Schulen zu besuchen. Im Krankenhaus in Chak sind von inzwischen 74 Mitarbeitern 16 Frauen. »Ich bin froh, wenn ich Frauen finde, die lesen und schreiben können. Mehr kann ich nicht voraussetzen«, so die Klinikleiterin. Analphabetismus sei aber nicht gleichzusetzen mit dumm. »Unsere Mitarbeiterinnen sind wissbegierig.«

Schwerer aber wiegt für Karla Schefter die seelische Verwüstung, die der Krieg hinterlässt. »Kaputte Menschen können Sie nicht wieder aufbauen.« Dies sagt die Aufbauhelferin mit einer gehörigen Portion Resignation in der Stimme. »Was ist, wenn den Menschen der Lebenssinn abhandenkommt?« 70 Prozent der Afghanen gälten als mental gestört, hauptsächlich leiden sie unter Depressionen. Hilfe, gar Psychotherapien gibt es nicht. Das Krankenhaus in Chak versucht, die Menschen mit einfachen Mitteln zu erreichen. »Helle Räume sind mir wichtig, leuchtende Farben an den Wänden, frische Blumen in den Krankenzimmern.« Viel mehr kann selbst die Klinikchefin nicht bieten.

Dabei hätte Karla Schefter selbst mehr als einmal Beistand benötigt. Eines Abends wurde sie in ihrer Klinik von Kriminellen brutal überfallen. Aber auch die Bilder des Krieges lassen sie oft nicht los. »Es ist ein fürchterlicher Anblick, wenn nach einer Explosion verkohlte Fetzen von Menschenfleisch in den Zweigen der Bäume hängen.« Warum sie trotzdem weitermacht? »Ich gebe die Menschen nicht auf«, zitiert sie den Titel ihres jüngst erschienen Buches.

Um eine ausführlichere Antwort auf die Frage zu bekommen, lohnt sich ein Blick in die turbulente Lebensgeschichte Karla Schefters. Geboren wurde sie 1942 im damaligen Ostpreußen. Ihr Vater fiel im letzten Kriegsjahr. Als Dreijährige erlebte sie die Flucht Richtung Westen. »Ich war immer ein robustes Kind, genügsam.« In Hamburg bei Verwandten des toten Vaters erwartete sie Armut. Prägend war auch die Erfahrung, als Flüchtling nicht willkommen zu sein, selbst bei den eigenen Verwandten nicht. Die Mutter arbeitete als Hauswirtschafterin, um die Tochter und sich selbst durchzubringen. »In der Zeit habe ich gelernt, allein zu sein.« Die kleine Karla saß Nachmittage unter einer Trauerweide an der Alster, las Karl May. »Wenn es dann blitzte und donnerte, hab ich unter meinem Baum Abenteuer gesponnen.« Damals fasste sie den Entschluss, in ferne Länder zu reisen. »Ich wollte einen Forscher heiraten, mit ihm auf Expedition gehen.«

Nach der Schulzeit machte sie eine Ausbildung in einem Krankenhaus. Sie wollte unbedingt OP-Schwester werden. Mit 21 Jahren schipperte sie aber zunächst mit einem Frachter nach Sao Paulo, pflegte dort brasilianische Millionäre. Eine Millionärin lernte sie näher kennen, die nahm sie mit nach New York. Nach drei Monaten kehrte Karla Schefter wieder zurück nach Deutschland, um endlich OP-Schwester zu werden.

Einige Jahre arbeitete sie dann in Gießen, bis ein Arzt sie nach Dortmund mitnahm. »Er wollte, dass ich in seinem Sinne die OP-Abteilung aufbaue. Das habe ich gemacht. So hatte ich im Alter von 24 Jahren schon eine Leitungsposition.« Das Ausland hat sie aber nie losgelassen. In über 80 Länder reiste sie. Als nach 20 Jahren »ihr« Chefarzt, der sie nach Dortmund geholt hatte, starb, war dies für sie der Schnitt, um als 45-Jährige etwas gänzlich Neues anzufangen. »Ich habe auf eine Annonce reagiert. Man suchte jemanden für Afghanistan.« Mit einer orientalischen Weisheit beschließt Karla Schefter ihren Lebensbericht: »Eine Karawane macht oft Umwege, um dann doch ans Ziel zu kommen.«

Zur Zeit ist es Karla Schefter aber verwehrt, in ihrem Krankenhaus in Chak zu sein. Die Sicherheitslage auf dem Weg dorthin ist zu fragil. So reist sie im Moment viel, um Spendengelder zu akquirieren. Die Klinik leitet sie per Telefon von einem Büro aus Kabul. Die Entwicklung seit der Besatzung des Landes durch westliche Truppen sieht sie zwiespältig. Einen Abzug der Soldaten kann sie sich zwar nicht vorstellen, weil dann ihrer Meinung nach das Land im Chaos versinken würde. Allerdings ärgert sie, dass Milliarden Dollar und Euro in den Militäreinsatz fließen, während humanitäre Hilfe immer weniger unterstützt wird.

Von der Bundesregierung erhält ihr Krankenhaus seit zwei Jahren keinen Cent mehr. Zuvor waren es jährlich immerhin bescheidene 50 000 Euro. Humanitär gefördert wird von Deutschland nur noch die Nordprovinz, weil dort auch die Bundeswehr stationiert ist. »Dort aber herrschen die Tadschiken«, wendet Karla Schefter ein. »So weit in den Norden sind die Taliban nie gekommen. Dort gab es schon immer Mädchenschulen.« Da aber, wo die Taliban Einfluss haben, habe sich Deutschland von ziviler Hilfe zurückgezogen. »Mit Militärangriffen kann man das Volk aber nicht für Demokratie gewinnen«.

Manchmal hält Karla Schefter Vorträge vor Bundeswehrsoldaten, um sie mit dem wirklichen Leben im Land jenseits der hermetisch abgesperrten Militärlager vertraut zu machen. Aber dies sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Viel wichtiger wäre es, wenn die Entscheidungsträger im Westen mehr über Afghanistan wüssten. »Es wird alles am grünen Tisch entschieden, am Menschen vorbei, ohne Kenntnis, wie die Lage im Land wirklich ist«, schimpft sie. »Man weiß nichts über die Menschen in Afghanistan, will über sie nichts wissen, aber man verurteilt sie.«

Im Krankenhaus in Chak werden alle Kranken kostenlos behandelt – mehr als 70 000 Menschen jährlich, 75 Prozent davon Frauen und Kinder. Diese Arbeit wird ermöglicht durch Spenden.

Bankverbindung: Afghanistan-Komitee C.P.H.A. e.V., Sparkasse Dortmund, Kto.-Nr.: 181000090, BLZ: 440 501 99

* Aus: Neues Deutschland, 6. August 2011


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