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Stehen Afghanistan neue Krisen bevor?

Ein Interview mit dem ehemaligen Vizepräsidenten Abdul Wahed Sarabi

Der "Freitag" bracht vor Weihnachten ein interessantes Hintergrundgespräch mit Abdul Wahed Sarabi. Sarabi gehört zum Volk der Hazarah, während der sechziger Jahre baute er als Universitätsprofessor von Kabul aus Partnerschaften zu deutschen Universitäten auf und erhielt dafür das Bundesverdienstkreuz. In der Zeit des Daud-Regimes stand er jahrelang unter Hausarrest und kam erst 1978 mit der Machtübernahme durch die Demokratische Volkspartei (DVA) wieder frei. Deren Präsident Babrak Karmal berief Sarabi zum Hochschul-Minister. Unter der Regierung von Mohammed Najibullah wurde der parteilose Politiker 1985 schließlich zum Vizepräsidenten Afghanistans ernannt und übergab in dieser Funktion 1992 die Macht an die Mujaheddin. Sarabi lebt heute in Deutschland.

FREITAG: Muss man sich die Zukunft Ihres Landes nach der Konferenz in Bonn etwa so vorstellen - Afghanistan wird UN-Protektorat ähnlich dem Kosovo und erhält aus symbolischen Gründen eine Zentralregierung. Die eigentlichen Herren sind jedoch die Warlords - eine denkbare Variante?

ABDUL WAHED SARABI: Ob denkbar oder nicht, das lässt sich schwer sagen. Aber sollten die Afghanen das Gefühl haben, ein Protektorat oder besetztes Land zu sein, werden sie viele Schwierigkeiten machen. Es wird so kommen wie nach dem Einmarsch der Russen. Die hatten anfangs auch erklärt, sie kämen als Freunde, um der Regierung zu helfen. Aber Volk und Regierung sind zweierlei. Das Volk empfand sie als Besatzer, prompt brachen überall Aufstände aus. Ich weiß nicht, welche Lösung sich die UNO für Afghanistan vorstellt. Und ich weiß, wie zerstritten die Warlords untereinander sind. Ich weiß aber auch, wenn Gefahr von außen droht, können die Afghanen sehr einig sein.

Das klingt nach einer Staatsphilosophie für Kriegszeiten: Wenn es bedrohlich wird, schließen wir uns zusammen. Gibt es auch eine für Friedenszeiten?

Leider nicht. Das ist ja das große Dilemma. In Friedenszeiten waren bisher stets ethnische Zugehörigkeit und ethnische Interessen vorherrschend. In gewisser Weise existierte in Afghanistan nie eine normale Staatsmacht, sie war immer in irgendeiner Form vom Ausland manipuliert. Denken Sie an den Einfluss, den die Engländer von Indien aus auf die afghanische Monarchie während des Ersten Weltkrieges ausübten. Eine ganze Dynastie wurde damals mit Hilfe Englands gestützt. Ein Staat, der von allen Afghanen getragen wurde oder gar eine Republik - das gab es noch nie.

Wie sinnvoll wäre ein föderaler Bund der Regionen oder Völker?

Die einzige Chance für einen künftigen afghanischen Staat besteht in einer solchen Lösung. Die Paschtunen halten zwar seit 300 Jahren die entscheidenden Machtpositionen, aber sie sind nicht die Mehrheit, sondern lediglich 39 Prozent der Bevölkerung, auch wenn sie selbst immer behaupten, 70 Prozent von uns wären Paschtunen, und der Anteil der Usbeken, Tadschiken, Hazarah, Turkmenen und anderer sei marginal. Macht, Waffen, ausländische Hilfe hatten immer die Paschtunen. Erst durch den Krieg gegen die Sowjetunion kamen auch andere afghanische Völker zu Waffen. Und die sagen jetzt: Wir wollen die gleichen Rechte wie die Paschtunen - das facht den Bürgerkrieg an.

Also wäre eine föderalistische Lösung sinnlos ...

Nicht unbedingt. Käme sie zustande und könnte so jedes Volk über sein eigenes Schicksal bestimmen, wäre wenigstens ein Ansatz gegeben, der kein Volk mehr legitimieren würde, ein anderes beherrschen zu wollen.

Gibt es Anzeichen, dass die politischen Führer Afghanistans darüber nachdenken?

Kaum, die Paschtunen haben Angst vor einer föderalen Variante - sie denken, das wäre das Ende ihrer Herrschaft. Rabbani und die Tadschiken denken genauso, obwohl sie doch früher auch unterdrückt waren. Sie hoffen eben, künftig so mächtig zu sein wie früher die Paschtunen. Nur unter Usbeken, Turkmenen oder Hazarah lassen sich Anhänger eines Föderalismus finden.

Welches Modell für einen afghanischen Staat sähe Pakistan gern?

Natürlich ein schwaches Afghanistan - wenn schon kein zugehöriges, dann mindestens ein höriges Afghanistan. Im Streit mit Indien um Kaschmir hat Pakistan immer gern Afghanen als Söldner rekrutiert. Unser Land ist für Pakistan ein strategisches Rückzugsgebiet im Kaschmir-Konflikt, weil es sichere Landwege nach Norden, nach Mittelasien bietet. Ich glaube, es würde der Regierung Musharraf sehr gefallen, könnte sie die Transitwege durch Afghanistan kontrollieren.

Gibt es denn bei Ihnen auch laizistische, weniger ethnisch geprägte, demokratische Kräfte, die Einfluss haben?

Nein, die gibt es nicht, die ethnische Frage überlagert alles. Jede politische Bewegung ist in Afghanistan derzeit eine ethnische Bewegung. Die Mehrheit der Paschtunen waren Taleban-Anhänger, die Usbeken stehen zu Dostum, die Tadschiken hinter dem Idol des toten Massud und so weiter. Eine demokratische Gruppe hätte gegenwärtig keine Basis. Vor dem Staatsstreich der kommunistisch orientierten Volkspartei 1978 gab es Anzeichen einer Parteienentwicklung über die Grenzen zwischen den Völkern hinweg. Aber das wurde erstickt. Leider.

Wie stabil kann die in Bonn konstruierte Übergangsregierung sein?

Nicht sehr stabil. Im Persischen gibt es ein Sprichwort: Legt der Baumeister den ersten Stein schief, wird auch die Mauer schief. Der UN-Beauftragte Brahimi hat nach meinem Eindruck keine überzeugende Arbeit geleistet. Er wusste, unser Grundproblem ist ethnischer Art - und was passierte? Unter den Delegierten in Bonn waren nur ein Hazarah und nur ein Usbeke - alle anderen waren Paschtunen oder Tadschiken. Die Konferenz hätte aber den Proporz der afghanischen Völker widerspiegeln müssen. Die vier strategischen Ministerien der Regierung von Hamid Karzai - Verteidigung, Äußeres, Inneres und Sicherheit - besetzen Tadschiken. Und alle vier Minister kommen aus einem einzige Tal. In Deutschland würde man sagen - aus einem Landkreis. Wie soll das funktionieren. Bonn war gut gemeint, aber die Chance wurde verpasst.

Was hat man in Afghanistan über die Bonner Verhandlungen erfahren?

Unser Land ist nicht so isoliert, wie immer suggeriert wird. Man kann die Stimme Amerikas hören oder die Deutsche Welle, auch BBC - vor allem BBC. Die meisten Menschen haben ein großes Interesse am Geschehen. Aber die Masse der Bevölkerung hat ja keine Macht, sie besitzt keine Waffen - und das ist entscheidend.

Das Gespräch führte Jörg Schulze

Aus: Freitag, Nr. 52, 21. Dezember 2001


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