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Afghanistan: Die starke Hand des Preisringers

Von Thomas Ruttig, Tarinkot *

In Helmand führen Nato-Truppen mit der afghanischen Armee eine Grossoffensive gegen die Taliban. Aber auch dort, wo nicht die Taliban das Sagen haben, regieren lokale Stammesmilizen, wie ein Besuch in der Provinz Urusgan zeigt.

Kurz vor dem Gouverneurssitz von Tarinkot, der Hauptstadt der Provinz Urusgan im Süden Afghanistans, steht ein Toyota-Pick-up mitten auf der Strasse. Ein paar der Insassen sind links im öffentlichen Badehaus verschwunden, andere shoppen in den umliegenden Krämerläden. Bereits stauen sich hinter dem Toyota die ersten Fahrzeuge.

Hinten auf der Pritsche des Pick-ups hängen ein paar wilde Gesellen herum. Sie tragen paschtunische Stammeskleider - weite Hosen und übers Knie reichende Hemden -, dazu Westen in Tarnfarben und Kalaschnikows; um den Kopf haben sie Pali-Tücher geschlungen, auf der Nase tragen sie eng anliegende Sonnenbrillen - Billigimitate internationaler Nobelmarken.

Auch ein dunkelgrünes Polizeiauto steht im Stau. Zwei uniformierte Polizisten steigen aus und nähern sich dem Pick-up. Der Fahrer, der hinter heruntergekurbelter Scheibe auf einer Zigarette herumkaut, schaut die Polizisten wortlos an. - «Matiullahs Leute», sagt einer der beiden Polizisten, als er resigniert zurück zu seinem Fahrzeug trottet.

Matiullah ist der stille Herrscher von Tarinkot, der Hauptstadt der Provinz Urusgan, nördlich von Helmand, in der die Nato-Truppen gemeinsam mit der afghanischen Armee derzeit eine Grossoffensive gegen die Taliban führen. «M» nennen ihn die hier stationierten NiederländerInnen, AustralierInnen und Special Forces der US-Armee. Mächtig wurde der knapp Vierzigjährige im Windschatten seines Onkels, JMK. Mit vollem Namen: Jan Muhammad Khan. Der Analphabet war vom Preisringer und Schulaufseher zum Provinzgouverneur aufgestiegen. Dabei half ihm, dass Abdul Ahad Karsai, der Vater des derzeitigen afghanischen Präsidenten (Hamid Karsai), ihn unter seine Fittiche nahm und - so erzählt man in Tarinkot - seine Söhne einschwor, JMK als zweiten Vater zu betrachten. Abdul Ahad Karsai wurde 1999 von den Taliban ermordet.

Berge von Granatäpfeln

Im März 2006 setzte Präsident Hamid Karsai JMK auf Druck der niederländischen Truppen als Provinzgouverneur ab, da dieser ein doppeltes Spiel betrieb: Bis heute hat JMK seine Finger im Drogengeschäft, besteuert die Anbauflächen der Opiumbauern und unterhält ein paar persönliche Talibangruppen, die ihm seine Gegner aus dem Weg räumen. Ein politisches Programm hatte er als Gouverneur nicht. JMK interessiert nur die Macht, die ihm zu Geld verhilft. Dazu braucht er Tarinkot nicht mehr. Sein Haupteinkommen stammt inzwischen aus einer Sicherheitsfirma in Kabul, deren Hauptaktionär ein Bruder Hamid Karsais ist. JMK kümmert sich mittlerweile vor allem um seine Immobilien in Kandahar, Kabul und Dubai.

Aber nach wie vor ist JMK Urusgans graue Eminenz - der heutige Provinzgouverneur nichts mehr als eine seiner Marionetten. Und der starke Mann vor Ort heisst «M».

Tarinkot bedeutet «Goldene Siedlung». Doch nichts glänzt in diesem Nest, ausser den orangenfarbenen Riesenpostern einer einheimischen Mobilfunkkette und den Bergen von Granat­äpfeln, die die Verkäufer ständig mit Wasser befeuchten. Die Hauptstrasse, die durch Tarinkot führt, ist die einzige asphaltierte in der Provinz, das Krankenhaus das einzige moderne Gebäude. Sonst stehen hier nur ein- bis zweistöckige Lehmziegelhäuser.

Urusgan, etwa halb so gross wie die Schweiz, ist eigentlich eine unwichtige Provinz. Sie liegt abseits der grossen Ringstrasse Kabul-Kandahar-Herat, mit der sie nur durch eine 180 Kilometer lange Stichstrasse verbunden ist. Doch Mulla Muhammad Omar, der Anführer der Taliban, wurde hier geboren. Und auch die Familie Karsai stammt ursprünglich aus Urusgan. So besitzt die Gegend symbolischen Wert - sowohl für die Taliban als auch für Präsident Karsai.

Wenn Matiullah nicht wäre ...

Die Taliban, so heisst es, nutzen Urusgan als Rückzugsgebiet. In Gisab, im Norden der Provinz, sollen Hunderte von Kämpfern überwinterten - darunter Araber, Tschetschenen und Pakistani. Aber so genau weiss das niemand. Die Zentralregierung hat die Kontrolle in Gisab schon seit Jahren verloren. Sie kontrolliert in Urusgan nur die drei wichtigsten Basare, darunter Tarinkot, sowie die Strassen dazwischen.

«Wenn Matiullah nicht wäre», meint ein Mitarbeiter der Provinzregierung hinter vorgehaltener Hand, «würden die Taliban hier schon morgen einrücken.»

Als in Tarinkot noch JMK herrschte, war Matiullah Kommandeur der Autobahnpolizei in Urusgan. Ihre Aufgabe war es, die wichtigsten Verkehrswege frei zu halten - auch wenn es eigentlich nur eine Strasse ins Zentrum der Region Kandahar gibt. Doch Mitte 2006 wurde die Autobahnpolizei wegen notorischen Banditentums aufgelöst.

Für Matiullah war das kein Problem. Geschützt von seinen Schutzherren in Kabul, JMK und Präsident Karsai, behielt er Waffen, Fahrzeuge und seine Mannschaften. Und auch seinen mit Stacheldraht umzäunten Stützpunkt an der nördlichen Ausfallstrasse der Stadt hat er nicht verlassen. Die Bewohner Tarinkots zeigen sich überrascht, wenn man ihnen sagt, dass es die x offiziell gar nicht mehr gibt. Inzwischen hat «M» ja auch durchgesetzt, dass er und 500 seiner Leute wieder auf die Gehaltsliste der offiziellen Nationalpolizei gesetzt werden.

Die Jahre seit der Auflösung seiner Polizei hat «M» locker überbrückt. Seine 2000 Leute stellt er seit längerem den örtlichen Nato-Truppen zu Verfügung, die darauf angewiesen sind, sich in ihren Stützpunkten mit dem Lebensnotwendigen versorgen zu können: Einmal in der Woche legen Hunderte Lkws den gefährlichen Weg von Kandahar nach Tarinkot zurück; dafür kassiert Matiullah bis zu 2500 US-Dollar pro Fahrzeug. Jeder seiner Männer erhält monatlich 220 US-Dollar - für ihre «Loyalität», wie Matiullah begründet. Reguläre Polizisten verdienen 140 bis 180 US-Dollar. Natürlich zahlen die Nato-Kommandeure Matiullah nicht direkt, die «Sicherheitspauschale» ist im Preis inbegriffen, den die Nato den Lkw-Besitzern bezahlt.

Nicht jeder Überfall auf die Konvois geht auf das Konto der Taliban. Matiullah, so munkelt man im Basar von Tarinkot, organisiert manchen Angriff selbst - um seinen Auftraggebern klarzumachen, dass er unersetzlich sei.

Aus den Einnahmen rekrutiert Matiullah neue Leute und kauft Fahrzeuge, die er wieder an die Nato vermietet. Auch das Strassenbauprojekt nach Gisab wird von seinen Leuten bewacht. Und vermutlich werden sie auch gegen die aufständischen Taliban einge­setzt - so wie die Privatmiliz des Präsidentenbruders Ahmad Wali Karsai in Kandahar, die für die CIA Aufträge erledigt, wie die US-Zeitung «New York Times» jüngst enthüllte. Das Sicherheitsgeschäft boomt.

Appell an die USA

Abdul Sattar, einem hohen Polizeioffizier in Urusgan, der nicht mit richtigem Namen genannt werden will, will das alles nicht in den Kopf. «Wenn wir von der Regierung nur ein Fünftel des Gelds bekämen, das an Matiullah geht, könnten wir gepanzerte Autos kaufen und die Strasse nach Kandahar selbst schützen», sagt er. Und, er könnte die jungen Leute rekrutieren, die jetzt lieber Matiullahs Miliz beitreten.

Es scheint, als wären Sattars Worte nicht bis nach London an die internationale Afghanistankonferenz von Ende Januar gedrungen. Die USA erwägen derzeit, noch stärker mit «lokalen Machthabern» auf subnationaler Ebene zu kooperieren und sie auch direkt zu bezahlen - zumindest solange die Regierung in Kabul dermassen korrupt ist. Dabei übersehen die USA, dass Leute wie Matiullah selbst Teil von Karsais Patronagesystem sind.

Matiullahs Miliz zeigt einen der wichtigsten Widersprüche westlicher Poli­tik in Afghanistan auf: Statt staatliche Ins­titutionen wie die Polizei zu stärken, werden illegale Parallelstrukturen geschaffen und aktiv gefördert. Lang­fris­tige Ziele werden kurzfris­tigem Nut­zen - wie dem sicheren Zugang nach Tarinkot - geopfert. Auch die Konferenz in London hat daran nichts geändert.

Kabuls Geisterpolizisten

Auf der Londoner Konferenz über Afghanistan Ende Januar beschloss die internationale Gemeinschaft, der Regierung in Kabul zu helfen, die Nationale Polizei (ANP) bis Ende 2011 auf 134000 Mann aufzustocken (die Armee wird auf 171000 Mann erhöht). Zudem will man helfen, die Poli­zisten besser zu trainieren. Dazu sollen erheblich mehr AusbildnerInnen nach Afghanistan entsendet werden. Derzeit gibt es auf dem Papier 82000 afghanische Polizisten. Doch die Uno schätzte im Dezember 2008, dass tatsächlich nur 35000 im Dienst stehen. In Kabul spricht man von «Geisterpolizisten», deren Gehalt von den Vorgesetzten in die eigene Tasche gesteckt wird. Die ANP ist keine Polizei nach europäischem Muster, mit StreifenbeamtInnen und ziviler Kriminalpolizei. Beim Kampf gegen die Taliban steht sie an vorderster Front. Täglich werden sechs bis zehn Polizisten getötet, viele desertieren. Jährlich verliert die ANP so zwanzig Prozent ihres Personals. Doch der nötigen Reform stehen vor allem Parallel- und Hilfspolizeien im Wege, die von westlichen Regierungen gefördert werden.



* Aus: Schweizer Wochenzeitung, 18. Februar 2010


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