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Afghanistans "kumulative" Proteste

Die Enttäuschung über das Versagen des Westens bringt die USA und ihre Verbündeten ins Dilemma

Von Thomas Ruttig *

Die Vereinten Nationen haben nach der Koranverbrennung durch US-Soldaten in Afghanistan Disziplinarverfahren gegen die Verantwortlichen gefordert. Selbst wenn es dazu kommen sollte, die Koranverbrennung ist aus Sicht vieler Afghanen nur der Tropfen, der das Fass des Unmuts über den Westen zum Überlaufen gebracht hat.

Es waren wohl die größten Proteste, die Afghanistan seit dem Sturz der Taliban erlebt hat. Sechstägige Demonstrationen in etwa der Hälfte der 34 Provinzen Afghanistans. Blockierte Straßen. Versuche, ISAF-Stützpunkte und UN-Büros zu überrennen. Dschihad-Aufrufe selbst im afghanischen Parlament. Mehr als 25 Todesopfer: Demonstranten, afghanische Polizisten, US-amerikanische Berater. Darauf folgte der Abzug aller britischen, französischen, deutschen und US-Berater aus den Kabuler Ministerien. »Zeitweise«, heißt es - aber auch das ist präzedenzlos.

Andererseits: Die meisten Proteste blieben friedlich. Meist gingen nur ein paar hundert Menschen auf die Straße. Auch nach dem Freitagsgebet am 24. Februar, dem folgenreichsten Tag der Proteste, kehrten die meisten Gläubigen ruhig nach Hause zurück. Wohl nicht jeder der zornig war, wollte den Aufrufen der Scharfmacher folgen, die oftmals selbst »Blut an den Händen« haben, wie man in Afghanistan jene nennt, die seit den 1980ern führend an den Bürger- und Fraktionskriegen beteiligt gewesen waren.

Der Zorn rührt nicht nur von den Koranverbrennungen her. Mehr und mehr Afghanen können einfach nicht erkennen, dass ihnen die ausländische Intervention - wie ursprünglich gedacht - mehr Sicherheit und ein besseres Leben bringt. Im Gegenteil: Der Krieg wurde ausgeweitet, auch mit tätiger Mithilfe der Taliban, und daran bereichert sich eine kleine Oberschicht, während die soziale Kluft rapide zugenommen hat. Und der Westen hat dagegen nichts unternommen, denn viele der Korruptionsbarone sind seine Verbündeten.

Man kann von »kumulativer Empörung« sprechen, die durch die Koranverbrennung in Bagram entzündet wurde. Aber waren die Protestierenden nur eine Minderheit oder sprachen sie für breitere Bevölkerungskreise? US-Präsidentschaftskandidat Newt Gingrich sprach pauschal von den »undankbaren« Afghanen, die schon »ein paar tausend Jahre damit verbracht haben, Ausländer zu hassen«. (Ja, vor allem ungebetene und bewaffnete Ausländer, die ihnen sagen wollten, wie sie ihr eigenes Haus gestalten sollten.)

Die »taz« zitierte einen »US-amerikanischen Afghanen«, der die Protestierenden als »Minderbemittelte, die nicht einmal den Koran lesen können«, denunzierte. Das ist natürlich höchst arrogant, und typisch für viele Heimkehrer aus dem Exil. Um mit Haitis früherem Präsidenten Jean-Bertrand Aristide zu kontern: »Analphabète, pas bête« - »Analphabet, aber nicht blöd«. Auch Afghanen sind in der Lage zu entscheiden, wann und mit wem sie protestieren.

Der Zorn war groß nach der Koranverbrennung, nicht nur bei Islamisten. Aber natürlich geht nicht jeder Zornige auf die Straße. Andererseits: Selbst wenn ein gläubiger Afghane von Zorn erfüllt ist, heißt das noch nicht, dass er den Mullahs folgt oder gar von ihnen regiert werden möchte.

Den Haus-Islamisten Kabuls spielen Vorfälle wie der in Bagram in die Hände, nicht nur den Taliban. Neben vielen Mullahs (aber darunter gibt es gemäßigte und gebildete, und viele hatten zu Mäßigung aufgerufen) sind das vor allem die früheren Kriegsfürsten, die inzwischen als »Dschihad-Führer« firmieren. Das meint den heiligen Krieg gegen die Sowjets, kann nach Bedarf aber auch auf andere »Ungläubige« ausgedehnt werden. Sie bilden inzwischen Karsais engsten, wenn auch inoffiziellen Beraterstab, werden immer in den Präsidentenpalast gerufen, wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, um kulturell wie politisch ihre Hegemonie zu festigen.

Wer mag sie jetzt noch zu kritisieren, wenn sie etwa den Kulturminister dazu bewegen, den afghanischen Fernsehsprecherinnen wieder einmal eine ordentliche Verschleierung und weniger Make-up zu verordnen? Der Minister ist wohl der Liberalste im ganzen Kabinett, und er hat sich das kaum selbst einfallen lassen. Aber den Ratschlägen von Karsais Dschihad-Warlords kann er sich nicht widersetzen.

Die Dschihad-Führer haben auch erheblichen Einfluss auf die afghanische Jugend, und gerade die Gebildeten unter ihnen. Viele junge Afghanen sind zwar entschlossen, etwas Besseres aus ihrem Land zu machen, als sie und ihre Eltern es in den letzten Jahrzehnten unter wechselnden, aber ähnlich katastrophalen linken, islamistischen und prowestlichen Regimen erlebt haben. Aber Internetzugang, Fernsehprogramme wie »Afghanistan sucht den Superstar«, Frauenfußballteams und Skater-Bahnen machen junge Afghanen nicht automatisch zu Demokraten. Karsais Dekret, an den Universitäten jegliche politische Aktivität zu verbieten, hat gerade den Islamisten einen Rekrutierungsraum eröffnet, den sie rege nutzen. Denn im Gegensatz zu den gesetzestreuen und schwachen demokratischen Gruppen scheren sich deren Parteien keinen Deut um Karsais Verbot. Sie stehen ohnehin über dem Gesetz, weil kein Richter sich an sie heranwagt.

Enttäuschung über das Versagen des Westens in ihrem Land und politische Alternativlosigkeit machen viele Afghanen inzwischen wieder anfällig für populistische »islamisch«-antiwestliche Parolen. Trotzdem halten viele in den USA die Koranverbrennung in Bagram immer noch für eine Lappalie. Ein sonst durchaus kritischer Afghanistan-Blogger schrieb unverdrossen von »zufälliger Verbrennung«. Und deutsche Medien sprachen noch Tage nach der Entschuldigung durch ISAF-Kommandeur John Allen - ein deutliches Eingeständnis des Vorfalls - von »angeblichen« Verbrennungen.

Dabei kann dieser massive politische Fehltritt schwerwiegende Folgen für die gesamte westliche Strategie in Afghanistan haben. Die beruht ja darauf, dass man die afghanische Streitkräfte aufstockt, ausbildet und berät, um Ende 2014 alle ausländischen Kampftruppen abziehen - oder in Ausbilder umbenennen - zu können. (Darüberhinaus werden Sonder- und noch geheimere CIA-Einheiten im Land bleiben, die den Drohnenkrieg und die bereits jetzt intensiven Kill-or-capture-Operationen gegen die Aufständischen fortführen werden.) Zwar ist nicht zu erwarten, dass die westlichen Regierungen ihre zeitweilig aus Kabuls Ministerien zurückgezogenen Berater dauerhaft abziehen werden. Das wäre das Eingeständnis des Scheiterns der Übergabe- und Abzugsstrategie, und das können sie sich nicht leisten. Wer würde ihnen die zur Zeit noch gesponnene Geschichte abkaufen, dass die »Mission Afghanistan« zwar durchaus ihre Schwierigkeiten habe, aber insgesamt erfolgreich abgeschlossen wird? Ganz praktisch aber werden sich nach dem Doppelmord an US-Beratern im Kabuler Innenministerium durch einen Angehörigen der dortigen Sicherheitskräfte - und das war nur einer von etwa 45 solcher Vorfälle, bei denen es über 70 ISAF-Todesopfer gegeben hat - vor allem in Europa kaum noch Freiwillige für solche Jobs finden.

Da sich, angesichts großen Wählerdrucks, Regierungen wie die deutsche kaum noch weitere Opfer in Afghanistan leisten können, stehen sie vor einem wirklichen Dilemma. Auf der afghanischen Seite würde die Abkehr von der Trainingsstrategie dazu führen, dass man die Verantwortung im Kampf gegen die Taliban selbst übernehmen müsste. Zwar zweifeln viele Beobachter zu Recht an der Ausbildungsqualität und vor allem an der Moral der afghanischen Soldaten und Polizisten, aber vielleicht kommen sie ohne westliche Berater besser zurecht. Allerdings könnten sich auch die afghanische Soldaten - so wie jetzt die ausländischen Berater - nicht mehr ihrer Nebenleute sicher seien. Vielleicht haben die schon einen Deal mit den Taliban gemacht

* Der Autor ist Kodirektor des unabhängigen Afghanistan Analysts Network.

Aus: neues deutschland, 5. März 2012



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