Hüter der Unordnung
Hintergrund. Zum Stand des Aufbaus eines staatlichen Polizeiapparates in Afghanistan durch die westlichen Besatzer
Von Frank Brendle *
In der Strategie der westlichen Besatzer, bis 2014 durch Aufrüstung der afghanischen Sicherheitskräfte den kontrollierten und gesichtswahrenden Abzug der eigenen Kräfte zu ermöglichen, kommt der afghanischen Polizei eine wichtige Rolle zu: Sie soll die vom Militär »befreiten« Gebiete halten und die Sicherheit garantieren, die für einen zivilen Aufbau notwendig ist. In der Theorie stützen sich die USA auf jahrzehntelange Erfahrungen im Bereich der »counterinsurgency« (Aufstandsbekämpfung). In der Praxis wird ein militarisierter Polizeiapparat geschaffen, der sich so kriminell verhält, daß er seinerseits selbst Gründe für den Aufstand liefert.
Derzeit hat die Afghanische Nationalpolizei (ANP) rund 134000 Angehörige. Das sind doppelt so viele wie einmal geplant waren: Im Jahr 2006 galten noch 62000 als Zielmarke. Je stärker der militärische Widerstand, desto höher wurde auch die Zahl der notwendigen Polizisten veranschlagt. Bis Oktober 2012 sollen es 157000 werden. Personalmangel gibt es bei den spezialisierten Einheiten: Der Dienst bei der als Gendarmerie konzipierten Bereitschaftspolizei und bei der Grenzpolizei gilt als besonders gefährlich, weil deren Angehörige öfter in Gefechte mit Aufständischen oder Drogenschmugglern verwickelt werden. Daher lag die Stellenbesetzung dort Ende 2010 bei rund drei Viertel des Solls: 8000 in der Bereitschafts-, 16000 in der Grenzpolizei.
Die Ausbildung von Polizeirekruten dauert ganze acht Wochen, und sie erfolgt, da die meisten Rekruten weder lesen noch schreiben können, per Bilderkarten und anhand von Modellen. Ob dabei »das Wissen einer rechtsstaatlich agierenden Polizei« vermittelt werden kann, wie es die Bundesregierung als Ziel angibt, ist fraglich. »Die Qualität der Polizei bleibt zweifelhaft«, heißt es jedenfalls im aktuellen Quartalsbericht des UN-geführten »Law and Order Trust Fund Afghanistan« (LOTFA). Der Fonds finanziert die Gehälter, Ausrüstung und Infrastruktur der Polizei.
Korrupt und kriminell
Die afghanische Polizei ist sowohl als hochgradig korrupt wie auch als kriminell bekannt – darin sind sich westliche Beobachter und afghanische Bevölkerung einig. Die Ankündigung, ihr ab 2014 mehr Verantwortung zu übertragen, läßt bei Menschenrechtsorganisationen die Alarmglocken läuten. Oxfam und andere haben im Mai, Human Rights Watch im September 2011 Berichte über Menschenrechtsvergehen durch Polizei und regierungsnahe Milizen vorgelegt. Mindestens zehn Prozent aller 2777 Zivilisten, die (nach Zahlen von Oxfam) im Jahr 2010 gewaltsam ums Leben kamen, seien durch afghanische Sicherheitskräfte getötet worden. Raub und Mißhandlungen seien an der Tagesordnung, auch über sexuellen Mißbrauch von Kindern wird berichtet.
Verläßliche Kontroll- und Beschwerdemechanismen gibt es nicht. Nur drei Prozent der von der afghanischen Menschenrechtskommission eingelegten Beschwerden werden untersucht – folgenlos. Die zivilen Opfer, die durch afghanische Sicherheitskräfte verursacht werden, »werden durch die Regierung nicht einmal gezählt«, so Oxfam. Auch der UN-Fonds LOTFA stellt ein Klima der »Straflosigkeit« für Regierungsangestellte fest. Manche Berichte deutscher Polizisten, aber auch von Bundeswehrsoldaten bestätigen das negative Bild. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter spricht von verbreiteter »Straßenräuber-Abzockerei« an den ANP-Checkpoints. Das Pentagon schätzt, daß zwölf bis 41 Prozent des ANP-Personals Drogen konsumieren.
Der schlechte Ruf der »Sicherheitskräfte« ist seit Jahren eine Konstante, die auch NATO-Offiziere eingestehen. Maßgeblich für den Polizeiaufbau ist das dem Pentagon unterstellte Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A, etwa: Vereintes Sicherheitskommando), das Ende 2009 mit der NATO-Trainingsmission (NTMA) fusioniert ist. Der damalige CSTC-A-Vize, Brigadegeneral Gary O’Brien, konstatierte im Mai 2007: »In einigen Gegenden Afghanistans ist das letzte, was die Leute sehen wollen, die Polizei (…) Sie gewährleisten nicht die Sicherheit der Bevölkerung – sie sind die Räuber der Bevölkerung.« Ende 2009 stellte der neue Chef des Kommandos, US-General William B. Caldwell, unverändert fest, daß die meisten Afghanen die Polizisten »eher als rechtlose bewaffnete Männer betrachten denn als vertrauenswürdige Gesetzeshüter«. Und der Sondergeneralinspekteur des Pentagons für den afghanischen Wiederaufbau (SIGAR) bestätigte Mitte vorigen Jahres, es gebe in der afghanischen Bevölkerung einen »Konsens« darüber, daß die Polizei hochgradig korrupt und eng mit lokalen, häufig kriminellen Machthabern verzahnt sei.
Militarisierung
Im Jahr 2002 übernahm Deutschland »auf Bitten der Vereinten Nationen und der afghanischen Übergangsregierung«, so die Bundesregierung, die Führungsrolle für den Aufbau der afghanischen Polizei (2007 durch die neu geschaffene EU-Mission EUPOL Afghanistan abgelöst). Faktisch hatten und haben aber die USA das Heft in der Hand. Die BRD kümmerte sich vorrangig um den Aufbau der Polizeiakademie in Kabul und die Ausbildung des Offizierskorps, die USA konzentrierten sich auf die Rekrutierung von Streifenpolizisten. Während die BRD für das laufende Jahr 77 Millionen Euro einplant (ohne Gehälter für die eigenen Ausbilder), sind es bei den USA über vier Milliarden Dollar.
Die Übernahme der faktischen Führungsrolle durch die Vereinigten Staaten vollzog sich parallel zum eskalierenden Aufstand. Im Mittelpunkt steht nicht der Aufbau einer zivilen Polizei, sondern die Schaffung einer Hilfstruppe zur Aufstandsbekämpfung. Dementsprechend übertrugen die USA 2005 die Federführung vom Außen- auf das Verteidigungsministerium (Pentagon). NATO und Europäische Gendarmerie entsenden 1000 Ausbilder, das Pentagon 1500. Darunter sind auch Angehörige der Firma Xe-Services (Blackwater), die zur Ausbildung der Grenzpolizei eingesetzt werden. Das Gewicht der zivilen Behörden ist erheblich geringer: Das US-Außenministerium hat über 500 Ausbilder der Sicherheitsfirma DynCorp im Einsatz (Stand Mitte 2010). Deutschland entsendet 200 Polizisten in ein bilaterales Team (GPPT, German Police Project Team), weitere rund 50 im Rahmen der Europäischen Polizeimission EUPOL Afghanistan, die auf insgesamt 250 Beamte kommt. Den vereinheitlichten Lehrplan entwirft das CSTC-A, in das Deutschland Verbindungsbeamte entsendet. Kern der Ausbildung ist die Vermittlung des Umgangs mit Schußwaffen und die Herausarbeitung »robuster« Fähigkeiten. Das US-Verteidigungsministerium schrieb der ANP in einem Memo von 2006 eine »Schlüsselrolle bei der gesamten Aufstandsbekämpfung« zu; dafür müsse auch »die notwendige paramilitärische Ausbildung und waffenmäßige Versorgung« gewährleistet sein. ANP-Einheiten erhielten schwere Waffen wie Maschinengewehre und Granatwerfer und durchliefen von den USA organisierte Crashkurse. Die extrem hohen Gefallenenzahlen belegen den militärischen Charakter ihrer Einsätze: Sowohl im Jahr 2009 als auch 2010 starben nach offiziellen Angaben jeweils 1500 Polizisten im Dienst. Die Afghanen fungierten einem kanadischen Ausbilder zufolge »als eine Art Kanarienvogel im Kohlenschacht«.
Die Konkurrenz zwischen dem »zivilen« deutschen Ansatz und dem militärischen der USA darf nicht überbewertet werden. Hatte die deutsche Botschaft Ende 2006 noch darauf bestanden, daß die Polizei »nicht in eine paramilitärische Kraft umgewandelt« werden dürfe, bildet heute die Task Force 47 der Bundeswehr Spezialeinheiten der afghanischen Polizei aus, zu deren Aufgaben das »Vorgehen gegen identifizierte regierungsfeindliche Kräfte« gehört, wie die Bundesregierung im April dieses Jahres auf eine Kleine Anfrage der Linken-Abgeordneten Ulla Jelpke antwortete.
Die schlechte Performance der ANP resultiert zum Teil daraus, daß es bis 2010 nicht einmal eine obligatorische Basisausbildung gab. Bis dahin wurden einfach Rekruten angestellt mit der vagen Absicht, sie bei Gelegenheit auszubilden (»recruit-assign-intend-to-train«). Wo ausgebildet werden sollte, fehlten häufig Übersetzer, die mit Polizeifachbegriffen vertraut waren. Die Auswahl der Rekruten vollzog sich mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip. Die Polizeistrukturen waren bald von Warlords der Nordallianz oder sonstigen Lokalfürsten besetzt. »Im Ergebnis bieten wir im Grunde Ausbildungen an, um die Milizen zu stärken«, heißt es in einer Studie mit dem Titel »Cops or Robbers?«, die Andrew Wilder 2007 für die Afghanistan Research and Evaluation Unit (Geldgeber sind unter anderem der UN-Flüchtlingskommissar, die EU-Kommission und die Weltbank) publizierte. Mitunter ließen örtliche Machthaber auch die Bauern und Hirten des eigenen Stammes in Uniformen stecken, Waffen entgegennehmen – und kassierten deren vom Westen bezahlten Sold. Im Zuge einer Strukturreform wurde ab 2005 rund die Hälfte der Offiziere entlassen bzw. degradiert, der Einfluß von Warlords ist aber ungebrochen.
»Wo sind sie alle hingegangen?«
Erst im Zuge der 2009 auf dem NATO-Gipfel in Strasbourg beschlossenen »Transition« wurde eine ernsthafte Koordinierung der verschiedenen Ausbildungsbemühungen im International Police Coordination Board (IPCB) implementiert. »Die maßgebliche Koordinierung auf operativer Ebene findet jedoch durch NTMA/CSCT-A statt«, also durch das US-Militär, so die Bundesregierung. Zuvor hatten beispielsweise die Ausbilder von DynCorps keine Ahnung davon, was die deutschen Kollegen im benachbarten Trainingszentrum machten.
Zur Basisausbildung gehört heute ein Alphabetisierungskurs. Von den Polizeirekruten sind nach Angaben der Bundesregierung, die sich auf die CIA beruft, rund 90 Prozent Analphabeten – in der männlichen Durchschnittsbevölkerung hingegen »nur« 57 Prozent. Auch das verdeutlicht den schlechten Ruf der Polizei. Die Kurse bringen die Rekruten auf den Alphabetisierungsstand eines Erst- bis Drittkläßlers. Fähigkeiten zur Protokollierung von Straftaten oder Zeugenaussagen sind damit ebenso ausgeschlossen wie die Vermittlung eines minimalen Menschenrechtsstandards entsprechenden Arbeitsethos’: Das afghanische Innenministerium hat voriges Jahr einen Verhaltenskodex entwickelt, demzufolge Polizisten sich verpflichten, die Rechte von Bürgern zu wahren und niemanden einer unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung auszusetzen. Schönheitsfehler des Papiers: Die eigenen Beamten können es nicht lesen.
Anthony Cordesman, der 2010 eine Studie für die Pentagon-nahe Denkfabrik »Centre for Strategic & International Studies« (CSIS) verfaßte, merkt zur Ausbildung an: »Im Prinzip ist es so: Wenn ein Polizeischüler sich zeigt und an der Abschlußfeier teilnimmt, kommt er durch und wird als ausgebildet betrachtet.«
Bis Ende vorigen Jahres hat die BRD 37000 afghanische Polizisten ausgebildet, in diesem Jahr waren es bislang knapp 4000. Doch es gibt keine Klarheit darüber, wie viele dieser Männer im Polizeidienst verbleiben. Man darf annehmen, daß etliche mit ihren neuen Lese- und Schreibkenntnissen und der Schußwaffenausbildung bei besser zahlenden Nichtregierungsorganisationen oder privaten Sicherheitsfirmen und Milizen anheuern. Bereits 2007 hatte Andrew Wilder in seiner bereits erwähnten Studie berichtet: »In der Kandahar-Provinz gibt es 1900 Polizisten, von denen nur 200 eine Ausbildung erhalten haben.« Aber dort seien 6000 Polizisten ausgebildet worden. Wilder: »Wo sind sie alle hingegangen?« Entsprechende Zahlen werden nicht erhoben.
Auch die tatsächliche Zahl der Polizisten war jahrelang ein großes Rätsel. Polizeikommandeure meldeten Männer als »anwesend«, die nur auf dem Papier standen, um deren Lohn einstreichen zu können. Das CSIS berichtet, in einer Region, in der 3300 Polizisten sein sollten, wären nur 1200 tatsächlich angetroffen worden. Anderswo konnten UN-Mitarbeiter von 77000 Polizisten nur 47000 verifizieren, weil ANP-Kommandeure die Kooperation verweigert hatten. Um solche »Geisterrekruten« auszuschließen, ermittelt ein »Monitoring Agent« von LOTFA nun die tatsächliche Zahl dienstbereiter Polizisten; zuletzt hat er eine Fehlerquote von zehn Prozent festgestellt.
Selbstbetrug
Eine der größten Sorgen war in der Vergangenheit der hohe Personalschwund. Die Verluste – durch Tod, vor allem aber Kündigung, Desertion oder Überlaufen zu Milizen und Taliban – lagen bisweilen im zweistelligen Prozentbereich. Dem CSIS zufolge quittierte ein Viertel der Offiziere jährlich den Dienst. Durch die Anfang 2010 erfolgte Anpassung des Soldes auf das Niveau der afghanischen Armee scheint dieses Problem zumindest bei Streifenpolizisten entschärft zu sein. Sie erhalten jetzt monatlich 165 Dollar zuzüglich Gefahrenzulagen (bis zu 75 Dollar) und Essenszulage. Allerdings: »Nach UN-Angaben zahlen die Taliban monatlich bis zu 550 Dollar an junge männliche Aufständische«, teilte die Bundesregierung voriges Jahr auf die Große Anfrage der Linksfraktion mit. Das CSIS geht nur von 300 Dollar »Taliban-Gehalt« aus. Die Bereitschaftspolizei wies im ersten Halbjahr 2011 immer noch eine monatliche Abgangsrate von rund drei Prozent auf.
NATO-offizielle Fortschrittsberichte müssen mit größter Skepsis betrachtet werden. Die wichtigsten Berichte ans Pentagon und die Protokolle des Koordinierungsgremiums IPCB sind geheim. Das CSIS wirft westlichen Mentoren und Ausbildern einen Hang zum Schönschreiben ihrer Erfolge vor. Es sei ein »Fluch«, daß in den freigegebenen Berichten sowohl der USA, ihrer Alliierten, der UNO und der afghanischen Regierung »Pläne und Konzepte zu Erfolgsmeldungen gesponnen« würden, bevor sie spürbare Auswirkungen hätten. Der US-Sondergeneralinspekteur (SIGAR) stellte voriges Jahr fest, das geltende Bewertungsinstrumentarium habe »keine verläßliche Einschätzung der Effektivität« der Sicherheitskräfte gebracht. Einheiten, die unter Stufe 1 (voll einsatzfähig ohne fremde Hilfe) eingestuft waren, hatten sich als völlig handlungsunfähig erwiesen. Kriterien seien falsch gewichtet und überholte Daten verwendet worden. Afghanischen Angaben sei generell nicht zu trauen. Zwei Drittel der beobachteten Polizeidistrikte waren gar innerhalb eines Jahres um mindestens eine Stufe zurückgefallen. Etliche Polizeieinheiten wollten gar nicht eigenständig werden – weil sie dann ohne Schutz und Geld der westlichen »Freunde« auskommen müssen.
Als großes Problem stellt sich heraus, daß die Situation in geschlossenen Trainingszentren unter den Augen westlicher Beamter nichts mit dem »wirklichen Leben« der Polizisten zu tun hat. »Wenn sie in ihre Distrikte zurückgehen, zwingen die anderen Polizeibeamten sie, sich wie zuvor zu verhalten und Schmiergelder anzunehmen. Wenn sie das nicht tun, können sie nicht bleiben«, zitiert Wilder einen afghanischen Beamten. In der Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei schildert ein deutscher Ausbilder, daß hochwertige Kriminaltechnik »in Abstellräumen des Innenministeriums oder in Polizeihauptquartieren angehäuft wird und verrottet, sobald sich die internationalen Polizeiausbilder zurückziehen«. Ohnehin ist die Loyalität der Polizei zur Regierung fragil. Manche machen lieber mit den Aufständischen Geschäfte. Die Taliban könnten Waffen und Munition »von der ANP zu einem niedrigeren Preis kaufen als auf der Straße«, so das CSIS.
Desolates Justizsystem
Als Lösung verfielen die Besatzer auf die Idee des Mentoring bzw. Partnering: Westliche Polizeispezialisten bzw. Militärs begleiten die afghanischen Polizisten nach deren Basisausbildung im Rahmen des »Focused District Development« (FDD, etwa: Gezielte Distriktentwicklung) gewissermaßen »im Felde«, um Defizite zu erkennen. Der nachhaltige Erfolg ist auch hier zweifelhaft: »In vielen Einheiten ging durch den Personalschwund ein hoher Teil jener Polizisten verloren, die im FDD-Programm trainiert worden waren«, heißt es im SIGAR-Bericht, der zudem ein Mentorenteam mit den Worten zitiert: »Die ANP wird einfach aufhören zu tun, was wir sie zu tun hießen, sobald wir das Gebiet verlassen.« In der Bundeswehr-Reservistenzeitschrift loyal schätzte ein Soldat, es würde »optimistisch gedacht« fünf Jahre dauern, »ehe wir sie allein arbeiten lassen können« – selbst das Distriktprogramm ist aber auf längstens zwölf Monate ausgelegt. Die Beteiligung deutscher Polizisten an diesem Teil des Polizeitrainings war aufgrund seiner Gefährlichkeit von sämtlichen Polizeigewerkschaften abgelehnt worden. Ende September teilte das Bundesinnenministerium mit, die FDD-Programme bis Anfang kommenden Jahres auslaufen zu lassen. Man konzentriere sich wieder auf die Ausbildung in den von der Bundeswehr geschützten Trainingszentren, die in Kabul, Kundus, Mazar-e-Sharif und Feyzabad eingerichtet worden sind. Deren Kapazitäten würden von 760 auf 1600 Ausbildungsplätze erweitert. Damit wird freilich auch eine Chance aufgegeben, jene Polizisten zu erreichen, die noch keine formale Ausbildung erhalten hatten. Künftig bleibt diese Aufgabe den USA vorbehalten.
Zu den regelmäßig wiederholten Hinweisen von Denkfabriken und NGOs gehört die Warnung, die beste Polizeiausbildung nütze nichts, wenn sie isoliert bleibe und der institutionelle Apparat nicht ebenfalls reformiert werde. Doch während westliche Militärdoktrinen seit Jahren den Gedanken der Vernetzung sämtlicher sicherheitsrelevanter Bereiche formulieren, stehen in Afghanistan die Sicherheitskräfte praktisch allein da.
Beim Justizsystem sind die Mängel eher noch gravierender als bei der Polizei. Gefängnisse sind praktisch rechtsfreie Räume. Bei einer Umfrage der afghanischen Menschenrechtskommission gaben 98,5 Prozent der befragten Exhäftlinge an, sie seien getreten oder geschlagen worden, mit bloßen Händen, Eisenstangen oder Schlagstöcken. Auch über Elektroschocks, Schlafentzug und Entzug von Nahrung und Wasser wurde geklagt. Immer wieder landen Menschen ohne Anklage und die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, in Haft. Aber auch das Gegenteil kommt vor: daß die Polizei Verdächtige gar nicht erst festnimmt, weil es keine Gefängnisse gibt, oder keine Staatsanwälte und Richter, die über Haftbefehle und Anklagen entscheiden könnten. Das CSIS beschreibt das formelle Justizsystem als »weit korrupter, ineffektiv und für zirka 95 Prozent der Bevölkerung schwerer zugänglich (…) als das lokale, informelle Rechtssystem«. Dieses kommt in Afghanistan traditionellerweise ohne Polizei aus. Für Frauen und Minderheiten ist es nicht unbedingt attraktiver, aber: Es funktioniert, im Gegensatz zum »westlichen« Modell.
Der Fisch stinkt vom Kopf her. Die Korruption im afghanischen Innenministerium ist legendär. Es sei ein »Geschäft, in dem Jobs verkauft werden«, heißt es bei Wilder, und das CSIS zitiert einen höheren ANP-Offizier: »Alle Stellen werden zu einem festgelegten Preis verkauft.« Besonders begehrt sind Posten entlang von Fernstraßen, die für 200000 Dollar »versteigert« werden.
Milizen
Im Vordergrund der westlichen Bemühungen steht nicht der Aufbau eines Rechtsstaates, sondern einer Hilfstruppe zur Beherrschung des Landes. In schier verzweifelt anmutenden Bemühungen, diesen »Sieg« doch noch zu erreichen, setzen die USA auf den Aufbau zusätzlicher, improvisierter bewaffneter Kräfte. Seit 2006 experimentieren sie an den immer gleichen Modellen: »Afghanische Nationale Hilfspolizei«, »Afghan Public Protection Programme«, »Community Defense Initiative«, »Critical Infrastructure Programme« – es geht darum, Männer anzuheuern, die in abgelegenen Gebieten, die für die reguläre Staatsmacht unerreichbar sind, ihre Gemeinden sichern sollen. Sie erhalten Geld und Waffen sowie eine Ausbildung durch US-Spezialkräfte. Menschenrechtsorganisationen und zivilmilitärische Thinktanks betonen übereinstimmend, diese Gruppierungen seien von Lokalfürsten, Drogenbaronen oder Warlords kontrolliert. Selbst die US-Army-Zeitschrift Stars and Stripes meldete, es würden Männer in Polizeiuniformen gekleidet und auf die Gehaltslisten gesetzt, »die weiterhin nach der Pfeife ihrer Milizbosse tanzen«.
Das neueste Experiment heißt »Afghanische Lokale Polizei« (ALP). Auch ihr werden zahlreiche Verbrechen vorgeworfen. »Wer nicht spurt, den peitscht er aus«, heißt es in der Zeitschrift Die Bundeswehr (März 2011) über einen ALP-Anführer. »Das ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber da halten wir uns raus«, so der Kommentar eines deutschen Hauptfeldwebels. Die Bundesregierung gibt kund, sie stehe der Milizstrategie »mit Skepsis« gegenüber.
Mit allem Grund: »Eine schlecht ausgebildete Kraft von halbalphabetisierten und gesetzlosen Polizisten und Soldaten wird wenig dazu beitragen, die Afghanen davon zu überzeugen, daß sie ohne Taliban besser dran sind«, warnte im Januar 2010 das Norwegian Peacebuilding Centre. Bestenfalls ersetzen sie den Terror der Taliban durch eigenen. Manche Gemeinden bewaffnen sich bereits, um sich gegen ihre »Beschützer« wehren zu können. Mit einer »vorübergehenden Lösung für ein kurzfristiges Problem«, wie es ein Pentagon-Sprecher in der New York Times vom 14. Juli 2010 nannte, hat das nichts zu tun.
Das CSIS konzediert zwar bescheidene Fortschritte, erklärt jedoch das Ziel, bis 2014 die »Übergabe« des Sicherheitsapparates in afghanische Verantwortung zu vollziehen, für vollkommen unrealistisch. Denn von Nachhaltigkeit ist keine Spur: Schon Instandhaltung und Betrieb der gelieferten Ausrüstung werden zum Problem. Beim Fahrzeugpark handelt es sich um eine bunte Mischung von Gefährten aus US-amerikanischer, deutscher, japanischer und russischer Produktion – Ersatzteilschwierigkeiten sind programmiert.
Vor allem aber ist nicht abzusehen, woher langfristig das Geld kommen soll. LOTFA übernimmt in diesem Jahr 571 Millionen Dollar für die laufenden Kosten der Polizei, die afghanische Regierung trägt gerade einmal 7,5 Prozent der benötigten Summe selbst. Wird der afghanische Polizeiapparat auf 157000 Mann ausgebaut, wird es noch teurer; langfristige Zusagen der westlichen Geldgeber gibt es aber nicht. Was wird afghanischen Soldaten, Polizisten und Milizionären der »Rechtsstaat« wert sein, wenn ihnen das Geld ausgeht und nur noch die Waffen bleiben?
Nach Angaben des Afghanistan NGO-Safety Office hat sich die Zahl militanter Anschläge in den letzten zwei Jahren von 3271 auf 7178 mehr als verdoppelt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz stellt fest, daß in Afghanistan »immer mehr Menschen offen Waffen tragen und bewaffnete Gruppierungen um sich greifen«. Im Bemühen, die unsichere Lage zu stabilisieren, bauen die Besatzer und die afghanische Regierung schlecht ausgebildete Polizei- und Hilfspolizeieinheiten auf, die nur zu weiterer Gewalt und Unsicherheit beitragen und Teile der Bevölkerung geradewegs zu den Aufständischen treiben. Die Menschenrechtsorganisationen fordern deswegen, die internationalen Truppensteller müßten über 2014 hinaus noch viel mehr Energie in den Aufbau des afghanischen Sicherheitsapparats stecken. Damit teilen sie freilich die Logik der Besatzer und finden genausowenig wie diese einen Ausweg aus dem Teufelskreis.
Frank Brendle ist Landesgeschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft–Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Berlin-Brandenburg
Aus: junge Welt, 8. Oktober 2011
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