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Pakistan boykottiert Bonn

Nach NATO-Angriff Absage an Afghanistan-Konferenz *

Der NATO-Luftangriff auf zwei pakistanische Grenzposten am Wochenende zeigt nun auch auf dem diplomatischen Parkett sichtbare Folgen: Wie ein Regierungssprecher nach einer Sondersitzung des Kabinetts in Lahore am Dienstag mitteilte, werde Pakistan die internationale Afghanistan-Konferenz in Bonn am kommenden Montag aus Protest boykottieren. Sie soll zehn Jahre nach dem Sturz der Taliban und der Stationierung westlicher Truppen Weichen für die Zukunft am Hindukusch stellen. Ohne Mitwirken Pakistans gilt es aber als kaum möglich, Frieden und Stabilität im Nachbarland Afghanistan zu erreichen.

Angesichts 24 getöteter Soldaten hatte Islamabad schon zuvor eine Überprüfung der Zusammenarbeit mit der NATO und den USA angekündigt. Zwei für die Versorgung der ISAF-Truppen in Afghanistan wichtige Grenzübergänge wurden geschlossen. An Washington erging die Aufforderung, den Luftwaffenstützpunkt Shamsi in der Provinz Balutschistan binnen 15 Tagen zu räumen. Die CIA soll ihn als Basis für ihr geheimes Drohnenprogramm gegen die Taliban und das Terrornetzwerk Al Qaida in den pakistanischen Stammesgebieten nutzen. Dabei gibt es immer wieder zivile Opfer.

Thomas Ruttig, Co-Direktor des unabhängigen Think-Tanks Afghanistan Analysts Network, bezeichnete die Situation nach dem blutigsten Grenzzwischenfall seit Beginn des Krieges als »sehr kritisch«. Sowohl die amerikanisch-pakistanischen als auch die afghanisch-pakistanischen Beziehungen seien davon betroffen. Das Protestbündnis gegen die Afghanistan-Konferenz kritisierte gestern die Einsätze im Grenzgebiet und die gezielte Liquidierung von Aufständischen generell als völlig kontraproduktiv. Das Bonner Treffen sei damit obsolet. Derweil hat das US-Zentralkommando Centcom eine eigene Untersuchung des schweren Zwischenfalls angekündigt. Der Report soll bis zum 23. Dezember vorliegen.

* Aus: neues deutschland, 30. November 2011


Mißerfolgsgeschichte

Pakistan boykottiert Bonner Konferenz

Von Werner Pirker **


Hundert Delegationen mit mehr als tausend Teilnehmern, darunter 63 Außenminister haben sich für die Afghanistan-Konferenz in Bonn angemeldet. Doch mit der aus Protest gegen den NATO-Angriff auf pakistanische Militärposten erfolgten Absage Pakistans hat die Teilnehmerliste eine empfindliche Reduktion erfahren. Durch die Nichtteilnahme Islamabads ist das Bonner Treffen weitgehend bedeutungslos geworden.

Hatten die USA mit dem Afghanistan-Krieg nicht zuletzt auch die Absicht verfolgt, Pakistan fester an die Kandare zu nehmen, so hat der nun bereits seit zehn Jahren andauernde Konflikt genau das Gegenteil bewirkt. Von den USA als Verbündeter im »Krieg gegen den Terror« zwangsverpflichtet, ist Pakistan inzwischen zum eigentlichen »Problemstaat« geworden. Das Militär hat nicht das geringste Interesse, sich am Krieg gegen die Taliban zu beteiligen. Es sieht in den afghanischen Aufständischen, die sich aus Paschtunen dies- und jenseits der Grenze rekrutieren, vielmehr ein Instrument pakistanischer Interessenspolitik im Nachbarland. Es geht vor allem darum, die Taliban gegen ein Bündnis zwischen Afghanistan und Indien in Stellung zu bringen. War die Verbundenheit des islamischen Staates mit den USA in der feindseligen Haltung Washingtons gegenüber dem blockfreien Indien begründet, so hat sich längst eine neue Konstellation ergeben. Da ist es nur zu logisch, daß Pakistan versucht, aus seiner Rolle als Zwangsverbündeter des Westens auszubrechen.

Betrachtet man den Krieg am Hindukusch als Afpak-Konflikt, als Konflikt um Afghanistan und Pakistan, wie das die US-Strategen schon seit längerem tun, dann ist das kriegerische »Nation building«-Projekt für Afghanistan eine Mißerfolgsgeschichte sondergleichen. Dann hat sich trotz des Riesenaufwandes die strategische Position des Westens in der Region in den letzten zehn Jahren eindeutig verschlechtert. Wenn nun in Bonn, zehn Jahre nach der ersten Konferenz auf dem Petersberg, Bilanz gezogen wird, dann fällt sie schon allein wegen der Abwesenheit der Delegation aus Islamabad verheerend aus.

Der Schröder-Fischer-Regierung ist es zu danken, daß Deutschland, dessen Bevölkerungsmehrheit den Krieg ablehnt, aus »Solidarität mit den USA« das Desaster mitzutragen hat. Denn daß der Krieg, nimmt man seine ordnungspolitischen Vorgaben zum Maßstab, verloren ist, wagt kaum noch jemand ernsthaft zu bestreiten. Die Botschaft aus Bonn müsse lauten, daß sich die Afghanen »auf uns verlassen können«, gab der Sonderbeauftragte der Bundesregierung Michael Steiner bei einer CDU-Konferenz als Durchhalteparole aus. Als Erfolg der westlichen Militärpräsenz nannte er die Vervielfachung der Zahl der Schüler, darunter 38 Prozent Mädchen. Da war man in der Ära des prosowjetischen nationalprogressiven Regimes schon wesentlich weiter. Doch damals galt das als ein Zeichen »nationaler Unterdrückung«.

** Aus: junge Welt, 30. November 2011


Gescheitert

Von Olaf Standke ***

Als hätte es noch eines erneuten Beweises bedurft, macht auch der blutigste Zwischenfall im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet seit Kriegsbeginn deutlich: Eine Friedenslösung am Hindukusch kann es mit NATO-Bomben einfach nicht geben. Gestern sagte die Regierung in Islamabad ihre Teilnahme an der internationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn ab. Dort will man über eine friedliche Zukunft nach dem voraussichtlichen Abzug der westlichen Truppen und die notwendige internationale Hilfe dafür beraten. Schwer vorstellbar, wie das ohne die Einbindung Pakistans erreicht werden könnte.

Das Nachbarland ist nicht nur Rückzugsgebiet und sein Geheimdienst wohl auch Mentor für aufständische Gruppen, es hat zudem im Inneren selbst mit radikal-islamischen Kräften zu kämpfen. Politisch fragil, wirtschaftlich schwach, aber hochgerüstet mit Atomwaffen kommt Pakistan eine Schlüsselrolle in der Region zu. Nun hat der jüngste NATO-Luftangriff auf Außenposten seiner Armee die ohnehin gespannten Beziehungen vor allem zu den USA in eine tiefe Krise gestürzt. Egal ob Versehen oder vorsätzliche Attacke: Die von Washington bestimmte Taktik der gezielten Tötungen macht Friedensverhandlungen schwer möglich. Angesichts der vielen unschuldigen Opfer dieses Vorgehens wächst zudem die Wut der Bevölkerung in Afghanistan wie in Pakistan. Selbst brennende Bilder des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Denn seit er ins Weiße Haus einzog, ist der Krieg sogar noch eskaliert. Doch seine Strategie der Truppenaufstockung und der Forcierung geheimer Drohnenangriffe ist gescheitert.

*** Aus: neues deutschland, 30. November 2011 (Kommentar)


Wutwelle über Pakistan

NATO-Angriff vom Wochenende als »vorsätzliche Handlung« verurteilt ****

Nach dem NATO-Beschuss von zwei Militärstützpunkten im Grenzgebiet zu Afghanistan geht die pakistanische Armee von einem vorsätzlichen Angriff des Bündnisses aus.

Die NATO-geführte Afghanistan-Truppe ISAF sei über den Standort eines jeden pakistanischen Armeepostens informiert, erklärte Militärsprecher Athar Abbas am Montag (28. Nov.) dem Sender Geo TV. Bei dem Angriff habe es sich nicht um ein Missverständnis gehandelt. »Zu sagen, das sei keine vorsätzliche Handlung gewesen, heißt, die Tatsachen zu verdrehen.«

Bei dem Beschuss durch ISAF-Hubschrauber waren am Sonnabend (26. Nov.) nach offiziellen pakistanischen Angaben 24 Soldaten getötet worden. Die NATO hat angekündigt, den Vorfall zu untersuchen. Abbas erhob weitere schwere Vorwürfe gegen das Bündnis. NATO-Vertreter in Pakistan seien nach Beginn des Beschusses sofort informiert worden, sagte er. Obwohl Pakistan darum gebeten habe, das Feuer umgehend einzustellen, habe der Angriff weitere eineinhalb Stunden angedauert.

Der Sprecher wies auch die Darstellung der afghanischen Armee zurück, wonach internationale Truppen zuerst von Pakistan aus beschossen worden seien und daher Luftunterstützung angefordert hätten. Er forderte die ausländischen Truppen auf, Opfer des angeblichen Beschusses zu präsentieren. Abbas sagte dem Urdu-Dienst der britischen BBC, in den vergangenen drei Jahren habe die NATO mindestens sieben Mal pakistanische Posten angegriffen. Dabei seien 72 Soldaten getötet und 250 weitere verletzt worden. Seit dem Beginn des internationalen Militäreinsatzes in Afghanistan vor rund zehn Jahren waren in Pakistan noch nie mehr Menschen bei vergleichbaren Vorfällen mit NATO-Beteiligung getötet worden.

Der jüngste Angriff hat in Pakistan eine Welle der Empörung ausgelöst. Die Vereinigung der Betreiber von Tanklastwagen teilte am Montag mit, sie werde keinen NATO-Nachschub mehr transportieren. Die Anwälte boykottierten Gerichtsverhandlungen und hielten in mehreren Städten Protestveranstaltungen ab.

Nach dem Angriff hatte die pakistanische Regierung bereits die wichtige Nachschubroute der NATO durch das Land gekappt. Sie hatte die USA außerdem aufgefordert, eine Luftwaffenbasis im Südwesten des Landes binnen 15 Tagen zu räumen. Alle Übereinkünfte mit den USA und der NATO würden überprüft werden.

China hat den NATO-Angriff scharf verurteilt. Die Souveränität Pakistans müsse geachtet und der Vorfall ernsthaft untersucht werden, hieß es in Peking am Montag. »China ist zutiefst schockiert über den Vorfall und äußert seine große Sorge und sein tiefes Beileid für die Opfer in Pakistan«, sagte der Sprecher des Außenministeriums, Hong Lei, bei einer Pressekonferenz. China ist ein enger Verbündeter und der wichtigste Waffenlieferant Pakistans.

**** Aus: neues deutschland, 29. November 2011


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