Der Mohn steht in voller Blüte
Afghanistan vor einer Opiumrekordernte
Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus der Schweizer Wochenzeitung WoZ vom 22. Mai 2003.
Von Jan Heller, Kabul
Dass Drogenanbau gottgefällig sei, findet sich nirgends im Koran, nicht in
der Sunna - dem traditionellen islamischen Recht - und auch nicht in den
überlieferten Sprüchen des Propheten Mohammed. Aber wer in
Afghanistan kann die Quellen schon im originalen Arabisch lesen. So
müssen sich die vielen analphabetischen AfghanInnen auf die Autorität
ihrer Mullahs verlassen. Einige von denen nutzen das weidlich aus. In der
Provinz Logar, vor den Toren der Hauptstadt Kabul, wurde in einigen
Moscheen sogar per Fatwa verkündet: Der Anbau von Opiummohn ist so
lange gestattet, wie das daraus gewonnene Rauschgift nicht die frommen
Moslems schädigt, sondern "nur" die Ungläubigen im Westen. Diese
Sprüche sind ein Déjŕ-vu aus Taliban-Zeiten und auch schon wieder
politisches Programm. Fundamentalistische Mullahs und um ihr
Machtmonopol bangende ehemalige Mudschaheddin wollen die um
Legitimität kämpfende Regierung in Kabul unterminieren, indem sie die
ganze Ohmacht des Interimsstaatschefs Hamid Karsai vorführen. Dazu ist
nichts besser geeignet als eine neue Opiumrekordernte.
Und genau die kündigt sich an. Mit 4000 Tonnen rechnen die Vereinten
Nationen. Russische Behörden gehen von 6000 Tonnen aus, das indische
Narcotics Control Bureau laut "Times of India" sogar von
schwindelerregenden 40'000 Tonnen. Schon die russischen Befürchtungen
wären fast eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr, als mit 3500
Tonnen schon der letzte Taliban-Rekord erreicht wurde, mit einer Milliarde
Dollar Gewinn für die afghanischen Drogenbarone und einem Marktwert von
25 Milliarden US-Dollar. An Afghanistans Grenzen werden bereits die
ersten Anzeichen für die neue Rauschgiftflut sichtbar. Pakistanischen
Rauschgiftfahndern fiel Anfang Mai eine Lieferung von 1350 Kilo Heroin in
die Hände, die über Iran und Irakisch-Kurdistan nach Europa gehen sollte -
der grösste Fang in Pakistans Geschichte.
Der afghanische Finanzminister Aschraf Ghani warnte unterdessen vor der
Entstehung eines "Drogenmafia-Staates" in Afghanistan, wenn jetzt nicht
die zugesagte Entwicklungshilfe gezahlt werde. Gebraucht wird das Geld
unter anderem für Kabuls neue Antidrogenstrategie, deren Entwurf auch
auf alternative Lebensmöglichkeiten für Opiumbauern und eine Stärkung
der Polizeigewalt setzt. In fünf Jahren, so der Plan, soll die
Drogenproduktion so um siebzig Prozent verringert, binnen zehn Jahren
ganz eliminiert werden.
Hadschi Rahmat, ein Stammesältester aus der Provinz Paktia im
Südosten des Landes, ist überzeugt, dass seinen Stammesbrüdern klar
ist, dass der Anbau der Rauschgiftpflanze sowohl gegen das Gesetz als
auch gegen die Grundsätze seines Glaubens verstösst. Warum steht in
seinem Distrikt dann trotzdem überall der Mohn in Blüte? Die Antwort des
Hadschi fällt ausführlich aus: Die Leute in seinem Dorf seien nach 23
Jahren Krieg bitterarm, Mohn bringe mehr Einkommen als Weizen, und sie
seien sich der Folgen des Drogenkonsums nicht bewusst. Vielerorts
zwängen die wieder auf der Bildfläche aufgetauchten Warlords die Bauern
zum Drogenanbau und kassierten dabei saftig ab.
Der Distrikt Tschamkani liegt in einem gut bewässerten grünen Tal.
Traktoren auf den Feldern sprechen von einem gewissen Wohlstand. Dass
Pakistan nahe ist, sieht man nicht nur am Angebot auf dem geschäftigen
Basar. Ein Drittel der Menschen aus Tschamkani hält sich noch immer in
Pakistan auf - mehr als Arbeitsmigranten denn als Flüchtlinge. In Pakistan
befindet sich auch das nächste Krankenhaus, Tschamkani selbst hat nur
eine kleine Klinik mit medizinischer Basisversorgung. Bis zur nächsten
Provinzhauptstadt sind es fast vier Autostunden über holprige Pisten und
steinige Flussbetten. Eines von zwei Schulhäusern ist zerstört. Der
Distriktgouverneur Sejjed Omar residiert in einem Gebäude mit leeren
Fensterhöhlen. Er besitzt nicht einmal einen eigenen Schreibtisch.
Polizeikommandant Hadiullah hat immerhin seine dunkelblaue Uniform
über den Krieg gerettet. Solche wünscht er sich auch für seine vierzig
Hilfspolizisten, die ihm der Stammesrat stellt: "Damit die Leute sie an den
Kontrollstellen von Räubern unterscheiden können." Vom mageren Budget
aus Kabul kommt auf der Distriktebene nichts an. Weder Omar noch
Hadiullah und seine Polizisten haben seit Monaten ein Gehalt gesehen.
Auch hier springt der Stammesrat ein, und Omar, ein wohlhabender
Händler, steuert etwas aus seiner eigenen Tasche bei. Ahmad Dschan
vom Stammesrat berichtet von Opiumexperten aus den traditionellen
Anbaugebieten in Nangrahar oder Helmand, die in der Gegend Felder
leasen, Mohn anbauen und auch gleich ihre Erntekolonnen mitbringen. Die
Paschtunen in Tschamkani bauen in diesem Jahr erstmals Opiummohn
an, besitzen aber nicht genug Erfahrung im Anritzen dessen reifer
Kapseln. Und sie berichten von geheimnisvollen Arabern, die über die nahe
Grenze kommen und die Argumente der Drogenfatwas mit gutem Geld
untersetzen.
Aber die neue Opiumflut ist auch Ergebnis kurzsichtiger
Entwicklungspolitik. Im Jahr nach dem Sturz der Taliban sorgte die
britische Regierung für Kompensationszahlungen an afghanische Bauern,
die sich dem Abbrennen oder Unterpflügen ihrer Saat nicht widersetzten.
Damit wurden Erwartungen für dieses Jahr geweckt, doch die Politik hatte
sich inzwischen geändert: In diesem Jahr sollen Opiummohnfelder ohne
Kompensation vernichtet werden. Doch das lassen die Bauern nicht mit
sich machen, und die Karsai-Regierung ist ohnhin zu schwach, ihre Polizei
oder ihre Truppen überall hinzuschicken. Und wenn sie doch kommen,
wissen afghanische Drogenbekämpfungsexperten, wie die eigene
Kampagne in der Realität aussieht. "Unsere Teams in den Dörfern
zerstören einen Dscherib (0,2 Hektar) Mohn, melden zwei Hektar und
streichen das Geld für die Differenz ein." Natürlich will dieser Experte
ungenannt bleiben. Aber auch beim Endprodukt greifen die Afghanen in die
Trickkiste: Britische Experten fanden bei siebzig Prozent aller Stichproben
von beschlagnahmtem Rohopium nicht den geringsten Morphingehalt.
Aus: WoZ, 22. Mai 2003
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