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"Der Hauptgrund war niemals Befriedung"

Hintergrund: Ein italienischer Militärexperte über den NATO-Krieg in Afghanistan. Ein Gespräch mit Fabio Mini


Generalleutnant a.D. Fabio Mini war 1996–98 Direktor der Führungsakademie des italienischen Heeres und 2002/2003 KFOR-Kommandeur im Kosovo. Heute arbeitet er als Autor und Militärexperte für Zeitschriften.

Italien trauert um einen weiteren Soldaten, der in Afghanistan getötet wurde. Stehen Ziele und Opfer in Form von Menschenleben in einem Verhältnis?

Die Risiken des Einsatzes wurden nie in Rechnung gestellt. Deshalb gab es auch keine Einschätzung, welchen Preis man zu zahlen bereit war. Es ist sinnlos, drumherum zu reden: Nach Afghanistan gingen wir, genau wie die anderen NATO-Länder, um den USA in einem Moment zur Seite zu stehen, als Washington viele Aufgaben zu erfüllen hatte. Ich insistiere seit langem darauf: Offi­ziell war der Hauptgrund der Mission niemals Befriedung, Wiederaufbau oder Demokratie, sondern der Zusammenhalt der NATO in einem Augenblick, in dem sie eine Krise durchmacht. Dies ist das erklärte Ziel, das auch in den offiziellen Dokumenten der ISAF-Mission festgehalten wurde. Die NATO ist nur in Afghanistan, um Geschlossenheit zu demonstrieren. Das ist der Grund, warum die USA ständig mehr Soldaten fordern.

Aber sind die USA nicht insgesamt überlastet?

Glauben Sie wirklich, daß denen die Kräfte fehlen, um es allein zu machen? Meinen Sie tatsächlich, daß unsere Soldaten oder die litauischen von Bedeutung sind? Nein. Wichtig ist, daß sich keiner einer NATO-Verpflichtung entzieht. Aus diesem Grund werden immer neue Truppen angefordert. Leider haben wir als NATO viele dieser Aufträge übernommen, ohne angemessen darauf vorbereitet zu sein, und obendrein im schlechtesten Moment, das heißt, als die Taliban die Kontrolle über einen Gutteil des Territoriums zurückgewonnen hatten. Ich beziehe mich auf den Zeitraum 2003 bis 2005, als die NATO die Führung der ISAF von der UNO übernommen hatte. Noch heute zahlen wir einen hohen Preis für die damaligen Fehleinschätzungen. Probleme, die nicht ernsthaft angegangen wurden, die quantitativen Aspekte der einsetzbaren Truppen und die armseligen innenpolitischen Begründungen in den einzelnen Staaten einmal ausgenommen.

Afghanistan wird oft als ein »Sumpf« bezeichnet. Ist das die passende Metapher?

Ich würde eher sagen, das ist die Realität. Ein Sumpf in dem Sinne, daß wir es hier mit einem schwer begehbaren Terrain zu tun haben. Nicht so sehr, weil uns die Mittel fehlen, sondern weil wir nicht wissen, wie wir uns in einer Realität verhalten sollen, die wir immer weniger verstehen. Es erscheint paradox, aber zehn Jahre nach Beginn des internationalen Einsatzes in Afghanistan haben wir heute sehr wenig Entscheidungsmöglichkeiten und wissen weniger über das Land als damals. Zudem haben wir uns den taktischen Methoden und Strategien der Kontrolle des Territoriums angepaßt, die für uns nicht natürlich sind und eher militaristische Wunschträume als politische, zivile und militärische Perspektiven widerspiegeln. Ich liefere Ihnen noch eine weitere treffende Metapher...

Und die wäre?

In Afghanistan haben wir uns in einen Teufelskreis verstrickt, dessen eines Ende der Anspruch oder die Anmaßung ist und das andere die komplette Ignoranz gegenüber der Lage.

Hat der Einsatz den Afghanen also nichts gebracht?

Es ist unnütz, sich irgendein »Erbe« auszudenken, das den Afghanen hinterlassen wird. Dieses »Erbe« existiert nicht. In Afghanistan ist wenig getan worden, und das auch noch schlecht. Die Verantwortung dafür tragen gewiß nicht unsere Soldaten.

Immer mehr Stimmen rufen nach einer Exit Strategy für den baldigen Abzug. Was halten Sie davon?

Für eine Ausstiegsstrategie braucht man eine Eintrittsstrategie und eine Strategie für den Unterhalt der Operation. Die, die es am Anfang gab, sind alle gescheitert und am Ende. Es war seit langem nötig, eine neue Strategie zu entwickeln und in deren Rahmen auch eine Ausstiegsstrategie. Ich weiß nicht, ob es dafür nun zu spät ist und es nicht besser wäre, »den Gashahn abzudrehen« und zu gehen. Aber welche Entscheidung auch immer getroffen wird, sie darf nicht auf der Welle der Emotion, des Schmerzes und der Wut über die zerstörten Menschenleben gefällt werden. Es muß eine echte, ernsthafte Reflexion über die Gründe eines Scheiterns beginnen, das politischer und nicht militärischer Art ist.

Interview: Umberto Di Giovannangeli

Übersetzung: Andreas Schuchardt. Zuerst erschienen in der gewerkschaftsnahen italienischen Tageszeitung l’Unità vom 26.7.2011

* Aus: junge Welt, 8. August 2011


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