Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der Krieg wird fortgesetzt

Bundestag streitet über Afghanistan-Mandat der Bundeswehr

Von Aert van Riel *

Die Bundesregierung will den Krieg in Afghanistan fortsetzen. Wann die letzten Kampftruppen abgezogen werden, ist ungewiss.

Hinter dem neuen Afghanistan-Mandat [externer Link!] der Bundeswehr stehen viele Fragezeichen. Wie lange und in welcher Anzahl die Truppen am Hindukusch bleiben werden, ist weiterhin nicht geklärt. Das am Mittwoch vom Kabinett beschlossene Mandat sieht vor, dass die Obergrenze für die Truppen bis Anfang 2013 von 5350 auf bis zu 4900 Soldaten gesenkt wird. Derzeit sind 5000 deutsche Soldaten in Afghanistan. Eine Verkleinerung des Kontingents auf 4400 Soldaten soll erfolgen, wenn dies die Lage erlaube. Hierüber soll der Bundestag am 26. Januar abstimmen.

Denkbar ist auch, dass trotz des bis Ende 2014 geplanten Truppenabzugs darüber hinaus für die Ausbildung von afghanischen Infanteriekräften deutsche Kampftruppen in dem Land bleiben werden.

In seiner Regierungserklärung im Bundestag versuchte Außenminister Guido Westerwelle (FDP) den Militäreinsatz als Erfolg darzustellen: »Afghanistan steht heute besser dar als vor einem Jahr und erst recht besser als vor zehn Jahren. « Deswegen sollen nun die Afghanen mehr Verantwortung für die Sicherheit übernehmen. Allerdings wird bezweifelt, dass der lange von der NATO hofierte Präsident Hamid Karzai dieser Aufgabe gewachsen ist. »Der Präsident muss begreifen, dass ohne Zurückführung von Korruption und Kriminalität, von Drogenanbau und Drogenhandel keine Befriedung möglich ist«, forderte SPD-Fraktionsvize Gernot Erler. Zudem kritisierte er die mangelhafte Ausbildung der Sicherheitskräfte. Trotzdem sicherte Erler der Bundesregierung die Unterstützung der SPD zu.

Dagegen empfahl der Grünen- Abgeordnete Frithjof Schmidt seiner Fraktion, gegen das Mandat zu stimmen. Denn die sogenannte offensive Aufstandsbekämpfung werde fortgesetzt. »Es kommt zu Verletzungen des humanitären Völkerrechts. Damit wird auch das Vertrauen in die ISAF untergraben «, erklärte Schmidt. Frieden müsse stattdessen auch mit den »reaktionärsten Teilen der Gesellschaft« geschlossen werden. Der LINKEN warf Schmidt vor, sie habe keine Konzepte für eine Lösung des Konflikts und den Truppenabzug.

Zuvor hatte der LINKE-Abgeordnete Wolfgang Gehrcke den sofortigen Abzug der Bundeswehr gefordert. Denn eine politische Lösung sei nicht möglich, solange in Afghanistan der Eindruck bestehe, dass das Land besetzt sei. Bundesregierung und NATO würden mit ihrer Strategie den Konflikt noch verschärfen.

Kritik kam auch vom Bundesausschuss Friedensratschlag. Dieser wies darauf hin, dass der unerklärte Krieg in Pakistan ausgeklammert werde, der mittlerweile mehr Todesopfer als der Afghanistan-Krieg fordere.

* Aus: neues deutschland, 16. Dezember 2011


Von nun an geht's bergab ...

ISAF hat "Zenit erreicht" - und noch keine Lösung für mehr Sicherheit in Afghanistan

Von René Heilig **


Außenminister Guido Westerwelle (FDP) erhob in der gestrigen Afghanistan-Regierungserklärung das Jahr 2011 zu einem »Wendepunkt«. Die Internationale Schutztruppe ISAF behauptet, sie habe den »Zenit« erreicht. Beides verleitet zu dem Gedanken, dass es nun noch weiter bergab geht.

Im Fortschrittsbericht der Bundesregierung - datiert mit dem 14. Dezember 2011 - liest man: »Die Sicherheitslage in großen Teilen Afghanistans stabilisiert sich zunehmend.« Im Süden und im Norden zeichne sich sogar eine »Trendwende« ab, die »jedoch noch fragil ist«. Die ISAF führt das auf die seit 2009 veränderte Strategie zur Aufstandsbekämpfung zurück. Das und der Aufwuchs der afghanischen Sicherheitskräfte hätten das Zurückdrängen der Aufständischen ermöglicht. Zwar gebe es noch spektakuläre Anschläge, dafür sei die Anzahl der Gefechte rapide gesunken.

Gerade im Norden, der von der Bundeswehr verwaltet wird, sei das erkennbar. Man habe die Regierungsgegner aus einstigen Hochburgen wie den Distrikten Chahar Darah und Imam Sahib verdrängt. Glaubt man das wirklich? Offenbar. Notgedrungen.

Das Militär hat dem Auswärtigen Amt unlängst die Leitung des Provincial Reconstruction Teams (PRT) in Faizabad in der nordafghanischen Provinz Badakshan übergeben. »Dies ist sieben Jahre nach der Gründung sicherlich eine Zäsur, aber auch ein Anlass zur Freude, zeigt es doch, dass sich Badakshan positiv entwickelt«, meint der Chef des Einsatzführungskommandos in Potsdam, Generalleutnant Rainer Glatz.

Weil alles so positiv verläuft, könne man 2012 mit dem Beginn des neuen Mandats die Personalobergrenze auf bis zu 4900 Soldatinnen und Soldaten absenken, sagt die Bundesregierung nach der Abstimmung in NATO-Stäben. Die - bislang nie ins Land geschickte - »flexible Reserve« entfällt. Darüber hinaus ist es Ziel der Bundesregierung, zum Ende des Mandatszeitraums eine weitere Reduzierung auf bis zu 4400 Bundeswehrsoldaten zu ermöglichen.

So die Lage das gestattet. Die wird maßgeblich von den US-Truppen bestimmt. Denn erst als die mit Hubschraubern verstärkte 1. US-Gebirgsdivision in den Verantwortungsbereich der Bundeswehr eingriff, konnte man die sich 2009 und 2010 verstärkenden Angriffe von eingesickerten Taliban und anderen Aufständischen eindämmen. Doch die USA ziehen Truppen auch aus dem Norden ab.

Es ist schon merkwürdig, wie sich selbst nüchterne Bundeswehrgenerale vom Wunschdenken regierender Politiker beeinflussen lassen. Sonst würden sie mit dem Begriff des Zurückdrängens vorsichtiger umgehen. Natürlich wissen die Aufständischen, dass die ISAF-Truppen ihr Gros bis Ende 2014 abziehen. Warum sollten sie also jetzt noch für sie verlustreiche Gefechte führen wollen? Ihre Überlegenheit ist die Zeit.

Davon haben Taliban & Co. genügend. Für sie ist wichtig, entscheidende Ausgangspositionen zu besetzen, wenn das derzeit noch von Präsident Karsai geführte Land in die angebliche Selbstständigkeit geschickt wird. General Glatz war bei dem PRT-Wachwechsel von seinem Minister beauftragt worden, den Afghanen mitzuteilen: »Die Bundesrepublik Deutschland bleibt ein verlässlicher Partner an der Seite unserer afghanischen Freunde. Der gemeinsame Aufbau wird sich fortsetzen.« Wie kommt es, dass die afghanischen Zivilisten dem nicht so richtig trauen? Vielleicht weil der zivile Aufbau überhaupt nicht voran kommt? Und weil die Gewaltkriminalität - wie die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) festgestellt hat - im Jahr 2011 um 39 Prozent zugenommen hat?

Wie die Aufständischen die Kontrolle übernehmen, zeigt zum Beispiel das Critical Infrastructure Programm (CIP), das die USA initiierten. Bewaffnete Afghanen, die von örtlichen Shuras - also von den jeweiligen Warlords oder Taliban-Kommandeuren - beauftragt werden, übernehmen Polizeiaufgaben. Ohne Polizisten zu sein. Sie sind nicht ausgebildet, sie tragen nur eine Armbinde, bringen ihre eigenen Waffen mit und streichen 140 US-Dollar monatlich ein. Zusammen mit den 300 Dollar, die üblicherweise von den Taliban als Sold gezahlt werden, liegen sie rund 400 Dollar über dem Durchschnittsverdienst in Afghanistan.

Darüber kann ein Mann wie General Wesa nur lachen. Ihm unterstehen über 12 000 afghanische Soldaten. Auf ihm ruhen Hoffnungen der ISAF. Doch in einem NATO-Dossier wird Wesa »als korrupter Offizier« charakterisiert, der versucht, »sich durch seine Position in der afghanischen Armee finanziell zu bereichern«. Zudem soll der »Freund der Deutschen« Verbindungen zum terroristischen Haqqani-Netzwerk haben. So bereitet sich jeder auf seine Weise auf die Übergabe der Verantwortung und ein »neues« Afghanistan vor.

** Aus: neues deutschland, 16. Dezember 2011


Hoffnungslos

Von Aert van Riel ***

Die Strategie der NATO in Afghanistan ist gescheitert. Der Krieg zwischen ISAF-Soldaten und Regierungstruppen gegen die Taliban und andere Gegner der Regierung Karzai dauert nun schon mehr als zehn Jahre an. Ein Sieg des Militärbündnisses ist nicht absehbar. Und je länger der Konflikt andauert, desto schlimmer wird die Lage für viele unbeteiligte Afghanen. Denn Leidtragende ist vor allem die Zivilbevölkerung.

Mitverantwortlich hierfür ist auch die Bundesregierung, die sich weigert, aus ihrem Scheitern die richtigen Schlüsse zu ziehen. Über einen Waffenstillstand, Verhandlungen oder einen schnellen Truppenabzug wird offensichtlich nicht einmal ernsthaft nachgedacht. Stattdessen macht Schwarz-Gelb mit dem neuen Bundeswehr-Mandat deutlich, dass die Kämpfe weiter fortgeführt werden. Die Anzahl der Bundeswehrsoldaten soll nur dann bis Anfang des Jahres 2013 von 5000 auf 4400 sinken, wenn die Lage dies erlaube. Ansonsten wird sich die Schlagkraft der Truppen kaum verringern.

Der eigene Zweifel an der Entwicklung der Sicherheitslage entlarvt zudem Guido Westerwelle, der sich gestern bemühte, die derzeitige Situation am Hindukusch zu beschönigen. Zum Abschluss seiner Rede im Bundestag erzählte der Bundesaußenminister sogar von Kindern in Afghanistan, in deren Augen er Hoffnung gesehen haben will. Die Realität sieht indes anders aus. Nach neuen Untersuchungen von UNICEF besteht bei fast jedem fünften afghanischen Kind keinerlei Hoffnung, dass es seinen fünften Geburtstag erlebt.

*** Aus: neues deutschland, 16. Dezember 2011 (Kommentar)


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur Bundeswehr-Seite

Zur Außenpolitik-Seite

Zurück zur Homepage