Vier Tage für nichts
Von Karsai einberufene "große Versammlung" stimmt der unbefristeten
Militärpräsenz der USA in Afghanistan zu
Von Knut Mellenthin *
US-Truppen können zeitlich unbegrenzt in Afghanistan bleiben. Das ist der
der Kern des Beschlusses, dem eine sogenannte Dschirga am Sonnabend in Kabul
zugestimmt hat. Die informelle „große Versammlung“ war von Präsident Hamid
Karsai einberufen worden und hatte seit Mittwoch getagt. Insgesamt waren
mehr als 2000 Menschen beteiligt.
Dschirgas gelten, zumindest aus vorherrschender westlicher Sicht, als
„traditionelle“ Politikform in Afghanistan. Etliche Autoren haben allerdings
aus aktuellem Anlass darauf hingewiesen, dass in den letzten 300 Jahren
nicht einmal 20 solcher Veranstaltungen stattgefunden haben. Für ihre
Zusammensetzung gibt es keine festgelegten Vorschriften und schon gar nicht
ein halbwegs reguläres Delegationsverfahren. Vorherrschende Ansicht ist,
dass Karsai, der das Präsidentenamt nun schon seit fast zehn Jahren ausübt,
die Teilnehmer dieser Dschirga wie auch der vorangegangenen im Juni 2010
weitgehend selbst ausgesucht hat.
Dschirgas können, zumindest im modernen Afghanistan seit der Besetzung durch
NATO-Truppen, keine verbindlichen Beschlüsse verabschieden, sondern nur
Empfehlungen geben. Das wiegt im aktuellen Fall allerdings nicht so schwer,
da die Teilnehmer ohnehin nicht wussten, worüber sie eigentlich abstimmen
sollten. Die Gespräche zwischen Kabul und Washington über eine Stationierung
US-amerikanischer Soldaten nach dem von Präsident Barack Obama ins Auge
gefassten „Abzug“ im Dezember 2014 befinden sich nämlich gerade erst im
Anfangsstadium. Die Verhandlungen zwischen den Regierungen beider Staaten
über ein Stationierungsabkommen werden unter großer Geheimhaltung geführt.
Welche Ziele die USA konkret anstreben, insbesondere auch, welche
Stützpunkte sie sich langfristig zur Nutzung sichern wollen, ist bisher
nicht bekannt. Einige Teilnehmer der Dschirga, darunter auch deren
Sprecherin Safia Sediqi, kritisierten, dass ihnen so gut wie nichts
Schriftliches zur geplanten Gestaltung der US-Militärpräsenz nach 2014
vorlag.
Die am Sonnabend (19. Nov.) verabschiedete Erklärung macht zwar den –
geschichtsphilosophisch banalen – Vorbehalt, dass die US-Truppen nicht für
alle Zeiten in Afghanistan bleiben sollen. Sie enthält aber kein Datum und
nicht einmal ein Zeitfenster für den vollständig Abzug und die Räumung aller
US-Stützpunkte auf afghanischem Boden. Immerhin wird die Forderung erhoben,
dass nach 2014 keine nächtlichen Razzien mehr durchgeführt werden dürfen.
Diese überfallartigen Durchsuchungen von Dörfern, bei denen auf die Rechte
der Bevölkerung keine Rücksicht genommen wird und regelmäßig zahlreiche
Menschen zum „Verhör“ abtransportiert werden, sind in Afghanistan besonders
verhasst. Karsai hatte – zum wiederholten Male – in seiner Eröffnungsrede am
Mittwoch ihre Abschaffung verlangt. Darüber will die NATO jedoch nicht
einmal diskutieren. Derzeit finden pro Nacht zwischen 12 und 20 solcher
Razzien statt.
Ein weiterer Hauptpunkt des Dschirga-Beschlusses betrifft die
„Friedensverhandlungen“ mit den Taliban. In der Sache bringt das absolut
nichts Neues, da schon die Dschirga im Juni 2010 sich ausschließlich mit
diesem Thema beschäftigt hatte. So lange außer Kapitulation und Entwaffnung
der Taliban nichts im Angebot ist, besteht jedoch für Verhandlungen keine
Chance.
* Aus: junge Welt, 21. November 2011
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