Afghanistans Präsident auf Zickzackkurs
2030 Delegierte der "Loja Dschirga" beraten über USA-Basen und Gespräche mit den Taliban
Von Thomas Ruttig, Kabul *
Seit Mittwoch tagen in Kabul die
2030 Delegierten einer »Traditionellen
Loja Dschirga«, einer Ratsversammlung,
die laut Verfassung nur in
nationalen Ausnahmesituationen einberufen
werden kann.
Diese Krisenversammlung ist bereits
die dritte in den zehn Jahren
der Präsidentschaft Hamid Karsais.
Sie soll zwei Themen behandeln:
die künftigen »strategischen«
Beziehungen mit den USA und die
Friedensfrage. Das erste meint die
Frage, ob Washington nach dem
Teilabzug 2014 Stützpunkte im
Land nutzen kann, das zweite, ob
weiter mit den Taliban verhandelt
werden soll.
Präsident Hamid Karsai hatte
seit Jahren auf Gespräche mit den
Aufständischen gedrängt. Nach
der Ermordung des Vorsitzenden
des afghanischen Hohen Friedensrates,
Burhanuddin Rabbani,
eines früheren Präsidenten und
Kriegsherren, durch einen mutmaßlichen
Taliban-Attentäter am
20. September will Karsai nun ein
Mandat für Direktgespräche mit
Pakistan. Ohne dessen Unterstützung
hätten die Aufständischen
kaum ihre jetzige Stärke erreicht.
Dass der Präsident die wenigen
Kilometer von seinem Palast zum
Loja-Dschirga-»Zelt«, einer Traglufthalle
deutscher Produktion, mit
dem Hubschrauber zurücklegen
musste, zeigt, wie prekär die Situation
selbst in der afghanischen
Hauptstadt ist. Die Straßen um das
Polytechnikum, wo die Dschirga
tagt, sind weiträumig gesperrt.
Man befürchtet, dass Talibankämpfer
einsickern könnten,
nachdem die Aufständischen von
einer »Sklaven-Dschirga« gesprochen
und alle Teilnehmer zu legitimen
Zielen erklärt hatten. Schon
während der Anreise der Delegierten
wurde ein Attentäter an einer
Polizeisperre erschossen; am
Mittwoch und Donnerstag schlugen
je zwei Raketen in der Nähe
des Tagungsortes ein, ein Gemüsehändler
an seinem Verkaufsstand
sowie eine weitere Person
wurden verletzt.
Seit Donnerstag (17. Nov.) beraten die
Versammelten in 40 Arbeitsgruppen
hinter verschlossenen Türen.
Journalisten und Diplomaten haben
vor der für diesen Sonnabend
geplanten Abschlusssitzung keinen
Zutritt mehr. Das Verhältnis
zwischen Karsai und seinen westlichen
Financiers ist seit einigen
Jahren erheblich getrübt. Karsai
argwöhnt, dass Washington bei
den Wahlen 2009 seinen Widersacher
Abdullah Abdullah, einen
früheren Mudschahedin-Führer,
protegiert habe. Die USA trauen
Karsais politischem Zickzackkurs
nicht. Zuletzt hatte er einem pakistanischen
Fernsehsender gesagt,
im Falle eines US-Angriffs auf
Pakistan würde er das Nachbarland
unterstützen.
Nun ist Karsai wieder umgeschwenkt.
In seiner Eröffnungsrede
warb er nachdrücklich dafür,
den USA auch nach 2014 afghanische
»militärische Infrastruktur«
zur Mitnutzung zu öffnen. Dafür
stellt er Bedingungen, die Washington
nicht gefallen: ein Ende
aller nicht von Kabul genehmigten
Militäroperationen, die Schließung
nichtafghanischer Hafteinrichtungen
wie auf dem Hauptstützpunkt
Bagram bei Kabul und konkrete
Finanzzusagen für die Streitkräfte
nach dem westlichen (Teil-)Abzug.
Aus der Dschirga war vorgestern
zu hören, dass man Nutzungsrechte
nur für zehn Jahre gewähren
wolle. Aber die Verhandlungen
laufen noch, und die Delegierten
kennen den Entwurf des Abkommens
nicht.
Zuvor hatte Karsai immer wieder
betont, Afghanistan werde
»niemals« erlauben, sein Territorium
»gegen Nachbar- oder Drittländer
zu benutzen«. Aber das Dilemma
zwischen Bündnisersuchen
in Richtung Washington und
Nichteinmischungszusagen in
Richtung der Nachbarn lässt sich
nicht auflösen. Karsai weiß natürlich,
dass die USA von den Basen
aus die militärischen Atomprogramme
Irans und Pakistans beobachten
wollen und dass die Regierungen
in Islamabad und Teheran
Basen wie in Schindand im
Landeswesten oder Khost und
Dschalalabad im Osten mit Misstrauen
beobachten. Näher können
die USA kaum an die Nuklearanlagen
herankommen. Auch Misstrauen
im Innern versuchte Karsai
entgegenzusteuern. Verfassungsänderungen
würden auf der
Dschirga nicht debattiert, erklärte
er. Gerüchte sind weit verbreitet,
er wolle sich eine dritte Amtsperiode
nach 2014 ermöglichen.
Trotzdem steht die Legitimität
der Dschirga selbst in Frage. Die
beiden Hauptallianzen der oppositionellen
Mudschahedin boykottieren
sie ebenso wie gut 70 der
249 Parlamentsabgeordneten, da
sie die Autorität des Parlaments
beschneide. Vertreter der Zivilgesellschaft
kritisieren mangelnde
Transparenz. »Ich weiß gar nichts
über die Tagesordnung«, die unveröffentlicht
blieb, bestätigt ein
Vertreter der Ostprovinz Nangarhar
gegenüber ND. »Ich bin sicher,
die Dschirga wird mit dem Resultat
enden, das der Präsident will.«
Wie schon bei der Friedensdschirga
2010 haben Karsais Vertraute
die Delegierten handverlesen.
So erklärt sich auch, dass keinerlei
Missfallen artikuliert wurde
– aber auch keine aktive Zustimmung
–, als Karsai sich für die USBasen-
Nutzung aussprach. Sicherheitshalber
hat die Versammlung
auch nur beratenden Charakter,
während Dschirgas gewöhnlich
beschlussfassende Organe
sind. Das letzte Wort liegt also
bei der Kabuler Regierung. Und
selbst wenn sie am Ende das Gegenteil
behauptet – einen nationalen
Konsens über Basen und Taliban-
Gespräche stellt diese Dschirga
nicht her. So wird Afghanistan
innenpolitisch weiter aufgeheizt
statt beruhigt.
* Aus: neues deutschland, 19. November 2011
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